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Russischer Ex-Oberst spricht Klartext: Die Lage wird schlechter für uns

Russischer Ex-Oberst spricht im Staats-TV Klartext: «Die Lage wird schlechter für uns»

Der russische Ex-Militär und Militärstratege Michail Chodarenok nahm im russischen Staatsfernsehen kein Blatt vor den Mund. Unverblümt warnt der 68-Jährige vor der Stärke des ukrainischen Militärs.
17.05.2022, 16:5517.05.2022, 17:55
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Michail Chodarenok
Michael Chodanerok kann auf fast 30 Jahre Militärerfahrung zurückblicken.Bild: twitter

Im russischen Staatsfernsehen erhielt Putins Narrativ eines erfolgreichen Einsatzes in der Ukraine einen herben Dämpfer. Der ehemalige Oberst Michail Chodarenok nutzte gestern eine der meist geschauten Talkshows, um eine überraschend ehrliche und düstere Einschätzung der aktuellen Lage abzugeben.

«Als Erstes muss ich darauf hinweisen, dass wir nicht ‹Beruhigungsinformationen› annehmen sollten. Manchmal wird darüber berichtet, wie die Moral und Psyche der ukrainischen bewaffneten Streitkräfte breche. Sie seien am Rande einer Moralkrise und so weiter. Das alles ist – milde ausgedrückt – falsch. Natürlich gibt es bestimmte Fälle, Kriegsgefangene, gewisse Einheiten, aber das sind Einzelfälle. Aber wie bereits erwähnt, wir sollten die Sache immer in ihrer Ganzheit betrachten.»

Bevor er seine Ausführungen fortführen kann, fällt ihm Moderatorin Olga Wladimirowna Skabejewa ins Wort. Dass sie Kreml-kritische Stimmen nicht gerne hört, ist in Russland bekannt: Von Kritikern wird die 37-Jährige auch als «die eiserne Puppe des Putin-TV» bezeichnet.

Mit ihrem Gegenargument versucht sie, das in Russland etablierte negative Bild einer schwachen ukrainischen Armee aufrechtzuerhalten. Es seien ja diese individuellen Fälle, die bestimmen würden, was im Gesamten passiert, wendet sie ein. Und wenn diverse Einheiten bereits gesagt hätten, dass sie nicht genügend finanzielle Unterstützung und Waffen erhielten, dann sei das auch von Wichtigkeit. Man dürfe diesen Faktor nicht ignorieren.

Hier spricht der russische Ex-Offizier über die Ukraine und den Krieg

Video: watson

Sicherlich, entgegnet Chodarenok bevor er unbeirrt mit seiner Kritik weiterfährt:

«Aber aus einer gesamten strategischen Position betrachtet, ist es so, dass die Ukraine in der Lage ist, eine Million Menschen zu bewaffnen. Das sagen sie selber: ‹Für uns stellt es keine Schwierigkeit dar, eine Million Menschen zu bewaffnen.› Die Problematik besteht dann darin, bis zu welchem Grad sie diese Armee mit modernen Waffen und Ausrüstung versorgen können.»

Auf sich alleine gestellt, wäre das natürlich nicht möglich, räumt Chodarenok ein. Aber man müsse dafür das US-amerikanische Lend-Lease-Programm, welches bald verabschiedet werde, in Betracht ziehen.

Gemeint ist damit ein Gesetz, welches dem US-Präsidenten erlaubt, der Ukraine auf schnellem Weg grosse Militärunterstützung zukommen zu lassen. Ein ähnliches Gesetz war auch im Zweiten Weltkrieg bei der Unterstützung der Alliierten in Kraft. Noch ist das Gesetz allerdings nicht angenommen. Letzte Woche scheiterte das 40-Milliarden-Paket vorerst am Widerstand des republikanischen Senators Rand Paul aus Kentucky, schreibt «n-tv».

Doch militärische Unterstützung aus der USA ist noch gar nicht alles, warnt der russische Ex-Oberst:

«Wenn man bedenkt, dass die europäische Hilfe noch ihre ganze Wirkung entfalten wird, dann muss man eine Million bewaffnete Ukrainer in naher Zukunft als Realität betrachten.»

Dann wagt er es, ein düsteres Bild für die Zukunft der russischen Armee zu zeichnen:

«In unsere eigenen strategischen Berechnungen muss miteinbezogen werden, dass die Situation für uns in dieser Hinsicht, offen gesagt, schlechter werden wird.»

Bevor er sich anschliessend zur Nato-Erweiterung äussern kann, wird er von Skabejewa unterbrochen.

«Wie viele Männer befinden sich in der ukrainischen professionellen Armee?», will sie von Chodarenok wissen. Die Berufssoldaten machten ja keinen grossen Anteil der Armee aus.

Ihr Argument scheint klar: Die ukrainische Armee sei schwächer, da sie sich hauptsächlich aus freiwilligen Kämpfern zusammensetze. Doch Chodarenok lässt dieses Argument nicht gelten. Die Professionalität einer Armee werde nicht durch die Anzahl Berufssoldaten bestimmt, argumentiert er. Stattdessen werde sie durch den Ausbildungsstand, die Moral und die Bereitschaft, für das Vaterland Blut zu vergiessen, bestimmt.

Eine einberufene Armee könne auch hochprofessionell sein, aber die Art und Weise, wie Soldaten rekrutiert würden, sei dafür nicht ausschlaggebend.

Daraufhin geht er gar einen Schritt weiter und schreckt nicht davor zurück, Wissenschaftler desselben Denkfehlers zu bezichtigen:

«In unserem Land hat sich dieses Dogma – dass ein Berufssoldat ein Profi ist – in den Köpfen manch unserer politischen Wissenschaftler festgesetzt. Doch das stimmt ganz und gar nicht! Ganz und gar nicht!»

Relevant sei das Bedürfnis, bis zum letzten Mann das eigene Heimatland beschützen zu wollen – wie dies in der Ukraine der Fall sei.

Bevor er diesen Punkt weiter ausführen kann, fällt ihm Skabeyeva wieder ins Wort und fragt ihn spottend: «Ist das Bedürfnis, für sein eigenes Land zu sterben, Professionalität?»

Chodarenok bleibt bei seinem Argument: «Es ist eine der wichtigsten Komponenten für eine hohe Kampfbereitschaft in der Armee.» Damit habe man im Marxismus-Leninismus recht behalten, so der Militärstratege:

«Schlussendlich wird ein Triumph auf dem Schlachtfeld durch eine hohe Moral der Streitkräfte bestimmt. Wenn sie bereit sind, für eine Idee zu kämpfen und dafür Blut zu vergiessen.»

Dann möchte er wieder auf die Nato zu sprechen kommen:

«Das Wichtigste in unserem Geschäft ist, immer seinen Sinn für militärisch-politischen Realismus zu bewahren. Wenn du das vernachlässigst, wird dich die Realität der Geschichte früher oder später so hart treffen, dass du es bereuen wirst. Was ist in dieser Hinsicht das Wichtigste? Kein Säbelrasseln.»

Man solle das Säbelrasseln mit russischen Raketen in Richtung Finnland unterlassen, warnt Chodarenok. Denn: Dies wirke ziemlich «amüsierend».

«Am Ende ist das Hauptdefizit unserer militärisch-politischen Position, dass wir gewissermassen geopolitisch komplett isoliert sind und – auch wenn wir das ungern zugeben – so ziemlich die ganze Welt gegen uns ist. Und das ist eine Situation, aus der wir uns befreien müssen.»

Bereits vergangene Woche wagte es Chodarenok, sich am Staatsfernsehen kritisch über die russische Strategie zu äussern. Er zweifelte an der Wirksamkeit einer möglichen Mobilmachung, da man wohl vor Neujahr keine neuen Panzer, Schiffe oder Flugzeuge erhalten werde – auch wenn diese sofort in Auftrag gegeben würden.

«Es wäre falsch, Menschen mit Waffen von gestern in einen Krieg des 21. Jahrhunderts zu schicken, wo sie gegen Nato-Waffen kämpfen müssen.»

Die gestrigen Aussagen waren jedoch die bisher ausführlichsten, welche die verzwickte Lage Moskaus zum Ausdruck brachten.

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61 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Hugo Schweizer
17.05.2022 17:08registriert Januar 2020
Ich hoffe er hat seine Famile rechtzeitig in Sicherheit gebracht, bevor er solche Aussagen am Putler TV wagte...
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Helvetiavia Philipp
17.05.2022 17:11registriert Februar 2018
Ein russisches Sprichwort besagt, 68 Jahre sei ein gutes Alter für einen Herzinfarkt; der Ärmste.
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Aspirin
17.05.2022 17:16registriert Januar 2015
Ein mutiger und weiser Mann. Da Putin die Kritik wohl nicht vertragen wird, wird er ihn aus dem Spiel nehmen, anstatt auf ihn zu hören.
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