Im russischen Staatsfernsehen erhielt Putins Narrativ eines erfolgreichen Einsatzes in der Ukraine einen herben Dämpfer. Der ehemalige Oberst Michail Chodarenok nutzte gestern eine der meist geschauten Talkshows, um eine überraschend ehrliche und düstere Einschätzung der aktuellen Lage abzugeben.
Bevor er seine Ausführungen fortführen kann, fällt ihm Moderatorin Olga Wladimirowna Skabejewa ins Wort. Dass sie Kreml-kritische Stimmen nicht gerne hört, ist in Russland bekannt: Von Kritikern wird die 37-Jährige auch als «die eiserne Puppe des Putin-TV» bezeichnet.
Mit ihrem Gegenargument versucht sie, das in Russland etablierte negative Bild einer schwachen ukrainischen Armee aufrechtzuerhalten. Es seien ja diese individuellen Fälle, die bestimmen würden, was im Gesamten passiert, wendet sie ein. Und wenn diverse Einheiten bereits gesagt hätten, dass sie nicht genügend finanzielle Unterstützung und Waffen erhielten, dann sei das auch von Wichtigkeit. Man dürfe diesen Faktor nicht ignorieren.
Sicherlich, entgegnet Chodarenok bevor er unbeirrt mit seiner Kritik weiterfährt:
Auf sich alleine gestellt, wäre das natürlich nicht möglich, räumt Chodarenok ein. Aber man müsse dafür das US-amerikanische Lend-Lease-Programm, welches bald verabschiedet werde, in Betracht ziehen.
Gemeint ist damit ein Gesetz, welches dem US-Präsidenten erlaubt, der Ukraine auf schnellem Weg grosse Militärunterstützung zukommen zu lassen. Ein ähnliches Gesetz war auch im Zweiten Weltkrieg bei der Unterstützung der Alliierten in Kraft. Noch ist das Gesetz allerdings nicht angenommen. Letzte Woche scheiterte das 40-Milliarden-Paket vorerst am Widerstand des republikanischen Senators Rand Paul aus Kentucky, schreibt «n-tv».
Doch militärische Unterstützung aus der USA ist noch gar nicht alles, warnt der russische Ex-Oberst:
Dann wagt er es, ein düsteres Bild für die Zukunft der russischen Armee zu zeichnen:
Bevor er sich anschliessend zur Nato-Erweiterung äussern kann, wird er von Skabejewa unterbrochen.
«Wie viele Männer befinden sich in der ukrainischen professionellen Armee?», will sie von Chodarenok wissen. Die Berufssoldaten machten ja keinen grossen Anteil der Armee aus.
Ihr Argument scheint klar: Die ukrainische Armee sei schwächer, da sie sich hauptsächlich aus freiwilligen Kämpfern zusammensetze. Doch Chodarenok lässt dieses Argument nicht gelten. Die Professionalität einer Armee werde nicht durch die Anzahl Berufssoldaten bestimmt, argumentiert er. Stattdessen werde sie durch den Ausbildungsstand, die Moral und die Bereitschaft, für das Vaterland Blut zu vergiessen, bestimmt.
Eine einberufene Armee könne auch hochprofessionell sein, aber die Art und Weise, wie Soldaten rekrutiert würden, sei dafür nicht ausschlaggebend.
Daraufhin geht er gar einen Schritt weiter und schreckt nicht davor zurück, Wissenschaftler desselben Denkfehlers zu bezichtigen:
Relevant sei das Bedürfnis, bis zum letzten Mann das eigene Heimatland beschützen zu wollen – wie dies in der Ukraine der Fall sei.
Bevor er diesen Punkt weiter ausführen kann, fällt ihm Skabeyeva wieder ins Wort und fragt ihn spottend: «Ist das Bedürfnis, für sein eigenes Land zu sterben, Professionalität?»
Chodarenok bleibt bei seinem Argument: «Es ist eine der wichtigsten Komponenten für eine hohe Kampfbereitschaft in der Armee.» Damit habe man im Marxismus-Leninismus recht behalten, so der Militärstratege:
Dann möchte er wieder auf die Nato zu sprechen kommen:
Man solle das Säbelrasseln mit russischen Raketen in Richtung Finnland unterlassen, warnt Chodarenok. Denn: Dies wirke ziemlich «amüsierend».
Bereits vergangene Woche wagte es Chodarenok, sich am Staatsfernsehen kritisch über die russische Strategie zu äussern. Er zweifelte an der Wirksamkeit einer möglichen Mobilmachung, da man wohl vor Neujahr keine neuen Panzer, Schiffe oder Flugzeuge erhalten werde – auch wenn diese sofort in Auftrag gegeben würden.
Die gestrigen Aussagen waren jedoch die bisher ausführlichsten, welche die verzwickte Lage Moskaus zum Ausdruck brachten.
Hugo Schweizer
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