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Oleksandr Syrskyi: Das Hirn hinter dem ukrainischen Vormarsch

Das Hirn hinter dem ukrainischen Vormarsch

Die ukrainische Führung war nicht überzeugt von der Gegenoffensive bei Charkiw. Doch Generaloberst Oleksandr Syrskyi setzte sich durch.
12.09.2022, 21:3413.09.2022, 07:15
Martin Küper / t-online
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t-online

Ein wenig schüchtern wirkt Oleksandr Syrskyi bei der Ansprache an seine Soldaten in Balakliya, aber an die neue Aufmerksamkeit wird sich der 57-Jährige wohl gewöhnen müssen – vor allem, wenn sich sein Versprechen bewahrheiten sollte: «Ich bin mir sicher, dass dies nicht die letzte Stadt ist, die wir befreien», erklärte der Chef ukrainischen Bodenstreitkräfte am Donnerstag vor dem zurückeroberten Rathaus von Balakliya. Die ukrainische Armee teilte ein Video der Szene mit englischen Untertiteln auf Twitter:

Zu diesem Zeitpunkt hiessen die weiteren Ziele des ukrainischen Vorstosses noch Kupiansk und Isjum, doch inzwischen sind auch diese strategisch wichtigen Orte wieder in ukrainischer Hand.

Nicht nur das Tempo der Gegenoffensive im Nordosten des Landes macht Kriegsbeobachter baff – sondern allein schon die Dreistigkeit des Angriffs. Monatelang hatte die ukrainische Führung die Offensive im Süden bei Cherson angekündigt, um dann mit voller Härte an der schwächsten Stelle der russischen Verteidigung zuzuschlagen.

Syrskyi verteidigte schon Kiew im März

Oleksandr Syrskyi soll an den jüngsten Erfolgen der Ukrainer wesentlichen Anteil haben – und das nicht nur als Motivator für seine Truppen: «Es war Syrskyi, der die Idee für einen Überraschungsangriff auf Balakliya hatte und dafür im Generalstab zunächst kritisiert wurde», sagte der ukrainische Politikwissenschaftler Oleksii Holobutskyi dem Portal «charter97». «Doch es gelang Syrskyi, die Militärführung von seinem Plan zu überzeugen.»

Oleksandr Syrskyi: «Ich konnte mir vorher nicht vorstellen, dass Russland in so grossem Maßstab und so dreist angreifen würde».
Oleksandr Syrskyi: «Ich konnte mir vorher nicht vorstellen, dass Russland in so grossem Maßstab und so dreist angreifen würde».Screenshot/Twitter@finkenbein1

Auch die italienische Zeitung «Il Messagero» berichtet unter Berufung auf ukrainische Quellen, dass es Syrskyis Idee gewesen sei, auf Kupjansk vorzustürmen, um die russische Armee bei Izyum vom Nachschub abzuschneiden und so den Zusammenbruch der gesamten Front in der Region Charkiw herbeizuführen.

Dabei ist der jüngste Vorstoss nicht Syrskyis erste militärische Glanzleistung: Er war auch für die Verteidigung von Kiew im März und schliesslich die Vertreibung der russischen Truppen aus dem Norden der Ukraine verantwortlich.

«Ich unternahm, was nötig war»

«Ehrlich gesagt, ich konnte mir vorher nicht vorstellen, dass Russland in so grossem Massstab und so dreist angreifen würde», sagte Syrskyi kürzlich der «Washington Post» über die Anfangszeit des Krieges. «Aber wir sind das Militär, und unabhängig davon, was ich glaubte oder nicht glaubte, unternahm ich, was nötig war.»

Eine Woche vor der Invasion liess Syrskyi Kommandoposten entlang der Hauptvorstossrouten der russischen Armee errichten und Kampfflugzeuge und Helikopter in sichere Verstecke bringen; die Militärschulen wies er an, provisorische Kampfverbände aufzustellen und ihre Übungsgeschütze in die Hauptstadt zu bringen. Den Grossraum Kiew unterteilte Syrskyi nach Darstellung der «Washington Post» in Verteidigungszonen, die er jeweils einem General zuwies und so eine klare Befehlskette schuf.

«Alles Sowjetische loswerden»

Die taktischen Entscheidungen im Gefecht überliess Syrskyi dabei den Kommandeuren vor Ort. Dieses Prinzip dürfte Syrskyi in den Jahren zuvor bei den Nato-Partnern der Ukraine gelernt haben. 2013 wurde Syrskyi Verbindungsoffizier zwischen dem ukrainischen Verteidigungsministerium und der Nato. Ziel der Zusammenarbeit war die Anpassung der ukrainischen Armee an Nato-Standards.

Nach dem russischen Überfall auf die Ostukraine 2014 nahm Syrskyi an mehreren Kampfeinsätzen teil und wurde mit einem Orden ausgezeichnet. Im August 2019 wurde Syrskyi zum Oberbefehlshaber der Bodentruppen ernannt und 2020 zum Generaloberst befördert. Für seine Leistungen in der Schlacht um Kiew ehrte Präsident Selenskjyi Syrskyi im April als Held der Ukraine.

Der 57-jährige Syrskyi trat 1990 in die Armee ein und gehört damit zur ersten Generation von ukrainischen Militärs nach dem Ende der Sowjetunion. Zu dieser Gruppe gehört auch Walerij Saluschnyj, der seit 2021 Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee ist. In einem Interview kurz vor dem russischen Überfall sagte Saluschnyj: «Für mich ist das Wichtigste, dass wir alles Sowjetische loswerden, das uns Hände und Füsse fesselt, und dass wir anfangen, Nato zu denken und die Dinge europäisch zu sehen».

Quellen

  • charter97.org: AFU Blitzkrieg In Kharkiv Region: Maps Of Ukrainian Army’s Breakthrough Appeared (englisch; Stand: 12. September 2022)
  • ilmessaggero.it: Oleksandr Syrskyi, chi è il comandante delle forze ucraine simbolo della controffensiva (italienisch; Stand: 12. September 2022)
  • mil.in.ua: Kyiv Defense Commander Syrskyi and ten other servicemen had been awarded the Heroes of Ukraine title. Two were recognized posthumously (englisch; Stand: 12. September 2022)
  • washingtonpost.com: Battle for Kyiv: Ukrainian valor, Russian blunders combined to save the capital (englisch; Stand: 12. September 2022)
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42 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Daniel Pünter
12.09.2022 22:13registriert April 2021
Diese Leute mit "Nato-Denken" sind einer der Vorteile der UA über RU.

Weiter so!
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Jo Kaj
12.09.2022 22:16registriert Juli 2019
Gut umgesetzte Strategie. Das ukrainische Militär zeigt auf, was alles möglich ist, wenn man mit Köpfchen umgeht. Lange genug mussten sie sich Drohgebärden stellen, konnten sich dadurch aber entschieden vorbereiten. Ich wünsche ihnen weiterhin viele Erfolge. Dieser (Kampfes)Wille hat es ausgemacht, bleibt standhaft! Und der Westen soll geschwind den Nachschub an Kriegsmaterial fortsetzen.
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MartinZH
12.09.2022 22:22registriert Mai 2019
Der Lead – „Die ukrain. Führung war nicht überzeugt von der Gegenoffensive bei Charkiw“ – ist m.E. sehr reisserisch, bzw. völlig verunglückt (warum macht man in der Berichterstattung so etwas?): Glaubt der t-online-Redaktor, Martin Küper, ernsthaft, dass der ukrain. Generalstab, bzw. der ukrain. Oberbefehlshaber, Walerij Saluschnyj, etwas beschliesst, woran er nicht selber glaubt?

Wenn der Politikwissenschafter Holobutskyi ggü. «charter97» meint, dass Oleksandr Syrskyis Plan vom Generalstab zunächst kritisiert wurde, dann heisst das nicht, dass die ukrain. Führung nicht davon überzeugt wurde.
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Zeigt Mike Johnson jetzt endlich Eier?
Der Speaker des Abgeordnetenhauses riskiert seinen Job, wenn er am Samstag tatsächlich das Hilfspaket für die Ukraine zur Abstimmung bringt.

Der Präsident will es, der Senat will es, und auch eine Mehrheit der Abgeordneten wollen es, das Hilfspaket für die Ukraine. Bisher jedoch sind die so dringend benötigten Gelder blockiert. Der Grund für diese absurde Situation liegt im amerikanischen Politsystem. Der Führer der Mehrheit in der jeweiligen Kammer kann darüber entscheiden, ob ein Gesetz zur Abstimmung gelangt oder nicht. Das hat weitreichende Konsequenzen.

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