Zahnbürste und Zahnpasta waren bereits gepackt, als Jewgeni Roisman, halb nackt, den Polizisten seine Wohnungstüre öffnete. Videoausschnitte zeigen Sicherheitskräfte in Tarnuniformen und kugelsicheren Westen, die Treppen des Wohnhauses von Roisman hochstürmen, begleitet von Mitgliedern der russischen Staatspropaganda. Vor der Wohnungstüre bleiben sie stehen und warten auf Russlands letzten prominenten Kremlkritiker.
Kein Zeichen von Panik regt sich in Roismans Gesicht, als er in seiner Heimatstadt Jekaterinburg, östlich des Uralgebirges, am Mittwoch verhaftet wird. Eher ist es eine nonchalante Leck-mich-Attitüde, mit der er geschehen lässt, was geschieht. Roisman hatte seine Häscher erwartet, das gepackte Necessaire lag für den Fall bereit.
Der 59-jährige Ex-Bürgermeister der viertgrössten Stadt Russlands hatte mehrere Verfahren am Hals, weil er die Politik des Kreml immer wieder kritisierte und die «Spezialoperation», wie Russland seinen Krieg in der Ukraine nennt, als das bezeichnete, was es ist. In einem Youtube-Video soll er nun das Wort «Invasion» verwendet haben. Es war das letzte Puzzleteil, das Roismans Verfolger gefehlt haben soll, um ihn zu verhaften.
Ihm drohen nun bis zu zehn Jahre Haft. Der Politiker war eine der prominentesten noch verbliebenen Kräfte im Land, in dem sich immer weniger Menschen offen Kritik leisten können. In einem Interview mit der britischen Sonntagszeitung «The Observer» sagte Roisman im März:
Roisman entschied sich zu bleiben. Am Ort seiner politischen Wirkungsstätte, in Jekaterinburg. Dort war Roisman von 2013 bis 2018 Bürgermeister, und in der Stadt hat er bis heute eine grosse Machtbasis. Hier wird in einem privaten Museum eine grosse Sammlung russischer Ikonen ausgestellt. Ein Grossteil soll aus Roismans Privatbestand stammen, wobei er wegen angeblichen Diebstahls auch schon Strafverfahren am Hals hatte. Vor seiner Amtszeit als Bürgermeister hatte sich Roisman als Hardliner in der Drogenpolitik einen Namen gemacht.
Heute mag man Putins Kriegspolitik auch mit Machogehabe erklären, vor zehn Jahren noch nannte die britische BBC Roisman in einem Porträt den «Macho-Bürgermeister». Seine Methoden damals: menschenfeindlich. Von seiner Organisation «Stadt ohne Drogen» geführte Drogenentzugs-Institute ketteten die Patienten während des Entzugs an ihre Betten. Zu essen gab es drei Mal am Tag etwas Brot, hie und da angereichert mit einer Zwiebel. Solche auch in Russland umstrittenen Methoden, mit Drogensüchtigen umzugehen, verteidigte Roisman damals mit den Worten:
Zu der Zeit verstand sich Roisman auch nicht als Putin-Gegner: Dessen Job als Präsident bezeichnete er als «schwierig» in einem «so grossen, so komplizierten Land. Ich beneide Putin nicht.»
Von solchen Positionen hat sich Roisman in den vergangenen Jahren weit entfernt. Weggefährten von damals bezeichneten Roismans Verhaftung jetzt als «richtig».
Der wohl letzte deutschsprachige Journalist, der Roisman traf, ist der «Spiegel»-Reporter Christian Esch. Der frühere Russland-Korrespondent kehrte vor kurzem zurück an seinen älteren Wirkungsort und reiste auch nach Jekaterinburg, wo er Roisman zum Joggen traf.
Der sportliche Hüne (1.94 Meter Körpergrösse) organisierte jeden Sonntag solche gemeinsame Joggingrunden mit Freunden, Bekannten und Anhängern. Sie sollen sogar extra nach Jekaterinburg geflogen sein, um mit dem Kreml-Kritiker zu laufen.
Anlässlich dieser Joggingrunde im August betonte Roisman, er sehe sich auch heute nicht als Oppositioneller. Die Opposition sei tot, seitdem Russlands wichtigster Putin-Kritiker Alexej Nawalny verhaftet wurde. Nawalny wurde 2020 Opfer eines Giftanschlags und nach seiner Rückkehr in Russland inhaftiert.
Er selbst habe Verständnis für alle, die sich nicht offen gegen den Krieg stellen wollten. Es gebe aber einen ernsthaften passiven Widerstand dagegen. «Das ist Russland hier. Schon wenn die Leute schweigen, ist das etwas wert», so Roisman.
Zu einem Mitjogger sagte der «Spiegel»-Journalist Esch, er hoffe, man werde Jewgeni Roisman nicht verhaften. «Und ich hoffe, man wird ihn nicht umbringen», erhielt er zur Antwort.