Die Terrorattacke am Freitagabend in Moskau war verheerend: 139 Tote, mehr als 180 Verletzte. Die Zahlen könnten noch steigen, viele der Opfer sind nach wie vor nicht identifiziert.
Die Urheberschaft des Massakers schien rasch klar. Die Islamistengruppe «Islamischer Staat Provinz Khorasan» (ISPK) bekannte sich bald zum Angriff, die Bekennerbotschaft gilt gemeinhin als glaubwürdig.
Die russische Regierung beschuldigte in einer ersten Reaktion zwar die Ukraine, allerdings korrigierte Wladimir Putin die Einschätzung am Montagabend, als er in einer Pressekonferenz ebenfalls davon sprach, dass «das Verbrechen von radikalen Islamisten begangen wurde».
Nun sorgt aber eine andere Sichtweise auf X für Aufsehen. Dort wird nämlich behauptet, dass Russland selbst hinter dem Anschlag stecke oder ihn zumindest nicht mit aller Macht verhindern wollte und damit bewusst in Kauf nahm.
Ein prominenter Vertreter dieser Sichtweise ist der Schwede Anders Aslund. Der 72-jährige Wirtschaftswissenschaftler ist nicht irgendjemand: Er gilt als profunder Kenner Russlands sowie der Ex-Sowjetstaaten und amtete Anfang der 90er-Jahre als Berater des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin. Im Anschluss hatte er zudem Mandate als Berater der Ukraine und des kirgisischen Präsidenten Askar Akajew inne.
Aslund führt zehn Indizien an, weshalb er glaubt, dass Russland selbst hinter dem Anschlag steckt. Verdächtig findet er, dass die vier ausführenden Attentäter in Tarnkleidung und mit Kalaschnikows bewaffnet im Auto durch Moskau fahren konnten, ohne in irgendeine Kontrolle zu geraten. Dann habe es kein Sicherheitspersonal in der Crocus City Hall gegeben, zudem seien die Metalldetektoren beim Halleneingang ausgeschaltet gewesen.
It is difficult to see the Crocus City Hall terrorist act as anything but instigated by the Kremlin & the FSB:
— Anders Åslund (@anders_aslund) March 24, 2024
1. The 4 terrorist arrived in camouflage with kalashnikovs all in one car - no checks on the roads.
2. No security was present at Crocus.
Weiter hätten die Terroristen ganze 18 Minuten lang unbehelligt wüten können. Und das, obwohl sowohl die Moskauer Polizei als auch der russische Geheimdienst FSB Stützpunkte in unmittelbarer Nähe betreiben würden.
3. The standard metal detectors were turned off.
— Anders Åslund (@anders_aslund) March 24, 2024
4. The terrorists stayed 18 minutes in the Crocus City Hall & worked out calmly. No police or security arrived.
5. Police & FSB centers are located within short walking distance from the Hall, but they came only after one hour.
In seinem Fazit schreibt Aslund, dass es sich beim Anschlag um «weitere Putin-Morde an unschuldigen Russen handelt, um mehr Krieg und Unterdrückung zu rechtfertigen».
Conclusion: This looks like another Putin killing of innocent Russians in order to justify more war & repression, but we are not likely to receive any full explanation for that very reason.
— Anders Åslund (@anders_aslund) March 24, 2024
Der Schwede beruft sich dabei auf Theorien, wonach Wladimir Putin in der Vergangenheit bereits ähnlich vorgegangen sei. 1999 habe er beispielsweise die Bombardierung von Wohngebäuden in Russland veranlasst, um den Einmarsch in der Region zu rechtfertigen. Dieser Krieg habe ihm letzten Endes geholfen, die Macht in Russland endgültig zu übernehmen.
Beweise für diese Behauptungen gibt es bis heute keine handfesten, wie der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott gegenüber Focus sagt. Er hält die von Aslund vorgebrachten Indizien generell für zu wenig stichfest und sagt über die Theorie:
Es sei zwar nicht komplett von der Hand zu weisen, dass Putin nun den Anschlag als neuen Rechtfertigungsgrund heranziehen könnte, um weitere Repressionen im Land zu veranlassen. Oder auch, um eine Generalmobilmachung für den Krieg in der Ukraine auszurufen.
Doch man müsse auch sehen, dass der Anschlag für den Kreml, auch nüchtern betrachtet, Nachteile mit sich bringe. So würden sich viele Russen nun zu Recht fragen, weshalb Regierung und Geheimdienst nicht in der Lage waren, ein solches Gemetzel zu verhindern.
Auch, dass die US-Botschaft in Moskau vor rund zwei Wochen vor möglichen Anschlägen warnte, Putin dies jedoch als Propaganda abtat und ignorierte, lässt den Kreml in schlechtem Licht dastehen.
Zudem kämen Putin und seine Schergen durch die Tragödie in der Konzerthalle unter Handlungszwang, so Experte Mangott:
Alles in allem scheint es nach aktuellem Kenntnisstand eher abenteuerlich, eine Inszenierung hinter den Vorfällen vom Freitagabend zu vermuten, wie auch Ralph D. Thiele, ein deutscher Militärexperte, gegenüber «Focus» bekräftigt. «Das eigene Bekenntnis und die Bestätigung durch zahlreiche internationale Experten markieren den ‹Islamischen Staat› zum wahrscheinlichsten Täter», so Thiele. Nichtsdestotrotz sollte man mit definitiven Urteilen zuwarten, so der Deutsche.
Russland habe sich durch den Ukraine-Krieg zahlreiche neue Feinde geschaffen und dafür gesorgt, dass grosse Mengen an Waffen im Umlauf sind. Es gebe auch in Russland selbst Gruppen, die zu gewalttätigem Widerstand bereit seien. Zudem dürfe man nicht vergessen, dass sich der Kreml auch in islamistischen Kreisen Feinde geschaffen habe – gerade mit den militärischen Interventionen in den Regionen Tschetschenien und Dagestan.
Einen demokratischen Prozess zu unterstützen ist 10000 Mal schwieriger als eine Diktatur zu errichten.