Mindestens 137 Tote und mehr als 180 Verletzte: Das ist die vorläufige Bilanz des Anschlags in Moskau. Das Blutbad erinnert an das Massaker im Pariser Konzertsaal Bataclan im November 2015: Wie damals schossen Terroristen auf friedliche Konzertbesucher, wie damals reklamierte kurz darauf der Islamische Staat die Urheberschaft für den Anschlag. Der Kreml unterstellte zwischenzeitlich der Ukraine, sie sei mit den Tätern in Verbindung gestanden, doch nach derzeitigem Kenntnisstand sind diese Anschuldigungen haltlos. Die Erklärung der Terrormiliz, die sie über ihren Propagandakanal «Amak» verbreitete, gilt als echt.
Gezeichnet hat das Bekennerschreiben der «Islamische Staat Provinz Khorasan» (ISPK), ein Ableger der Terrororganisation «Islamischer Staat», der auch unter den Bezeichnungen IS-K, ISIS-K oder Daesh–Khorasan bekannt ist. Woher kommt diese Terrorgruppe, wie gross und gefährlich ist sie? Und warum ist Russland eine Zielscheibe der militanten Islamisten? Die folgende Übersicht sucht Antworten auf diese Fragen.
Wie der Name der Organisation verrät, handelt es sich um einen Ableger der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), der aus der Al-Kaida-Filiale im Irak hervorging und von 2013 bis 2017 als De-facto-Staat grosse Teile des Iraks und Syriens kontrollierte. Dieses «Kalifat» brach unter dem Druck einer breiten Koalition von westlichen Truppen und schiitischen Milizen weitgehend zusammen; letzte Reste in Syrien wurden 2019 zerschlagen. Seither ist der IS in anderen Staaten – vornehmlich in Zentralafrika und im Sahelgebiet – aktiv, wo er zum Teil an Bürgerkriegen teilnimmt und Terroranschläge verübt.
Der «Islamische Staat Provinz Khorasan» (ISPK) entstand in Afghanistan, hauptsächlich aus ehemaligen Mitgliedern der pakistanischen Taliban (Tehrik-i-Taliban Pakistan), der afghanischen Taliban und des Haqqani-Netzwerks, die mit der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) zusammenarbeiteten. Auch IS-Kämpfer aus anderen Teilen der Welt schlossen sich der Gruppe an, die 2015 dem damaligen IS-Anführer Abu Bakr al Bagdadi die Treue schwor. Die ersten Anführer des ISPK wurden alle nach kurzer Zeit durch US-amerikanische Militärschläge getötet.
In Afghanistan steht der IS-Ableger in Konkurrenz zu den Taliban, die er als zu gemässigt betrachtet. Zudem wirft der strikt sunnitische ISPK den Taliban vor, mit den schiitischen iranischen Revolutionsgarden zu kooperieren, was er als Verrat betrachtet. Gleichwohl haben sich einige frustrierte Taliban-Führer dem IS angeschlossen, da dieser ihnen Aufstiegsmöglichkeiten bot und gute Gehälter auszahlte.
Da die Taliban den ISPK bekämpfen, kontrolliert dieser in Afghanistan keine Gebiete, sondern beschränkt sich auf die Durchführung von Terroranschlägen. Derzeit ist der ISPK – der durch private Spenden aus den Golfstaaten und seit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan vermutlich auch vom pakistanischen Geheimdienst ISI finanziert wird – der stärkste Ableger des IS.
Als Kopf des ISPK gilt seit 2020 Sanaullah Ghafari, der auch als Shabab al-Muhajir bekannt ist. Die USA setzten ihn nach einem blutigen Anschlag auf den Flughafen von Kabul im Jahr 2021 auf die Liste der ausländischen Terroristen. Ein IS-Communiqué bezeichnete Ghafari als erfahrenen militärischen Anführer, der an Guerillaoperationen und der Planung von komplexen Anschlägen beteiligt war, und als einen der «urbanen Löwen» des ISPK in Kabul.
«Khorasan» bezieht sich auf eine historische Provinz in Zentralasien, die sich über Gebiete in den heutigen Staaten Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan erstreckte. Der Name bezeichnet zunächst also das überstaatliche Heimatgebiet der Organisation, steht darüber hinaus aber auch für eine goldene Ära des Islams.
Zugleich hat «Khorasan» aber auch eine religiöse Dimension: Der Name spielt auf mehrere Hadithen an – Hadithen sind Überlieferungen der Worte und Taten des Propheten Mohammed durch dessen Gefährten –, in denen von «schwarzen Bannern» die Rede ist, die sich kurz vor dem Ende der Zeiten aus Chorasan erheben werden. Ihnen und dem von Gott gesandten Mahdi, die niemand zurückhalten könne, sollen die Gläubigen folgen, bis Jerusalem erobert sei. Obwohl einige islamische Gelehrte die Echtheit dieser Hadithe anzweifeln, sind sie unter dschihadistischen und fundamentalistischen islamischen Gruppen beliebt. Auch der IS legitimiert sich gegenüber den Gläubigen mit einem schwarzen Banner.
In Europa tauchte der Begriff «Khorasan» in Zusammenhang mit dem IS vermutlich erstmals 2016 in einem Video auf. Dieses wurde nach einem Anschlag in der deutschen Stadt Würzburg verbreitet; ein junger afghanischer Flüchtling, der sich zum ISPK bekannte, hatte in einem Zug Passagiere mit einer Axt angegriffen.
Nach der Zerschlagung seines «Kalifats» 2017 schien es, als sei der «Islamische Staat» in der Versenkung verschwunden. In Europa kam es vorerst nur noch zu kleineren Anschlägen, bei denen sich die Täter auf diese Terror-Organisation beriefen. Spätestens mit dem Blutbad in Moskau hat sich der ISPK aber als gefährliche dschihadistische Gruppe in Szene gesetzt – und die Drohung betrifft auch Westeuropa, denn im Bekennerschreiben wird ausdrücklich erwähnt, es gelte, wahllos möglichst viele «Christen» umzubringen.
Allerdings war Moskau längst nicht der erste verheerende Anschlag des ISPK. So bekannte dieser sich etwa zum Anschlag auf eine Gedenkfeier in der iranischen Stadt Kerman, dem im Januar mehr als 90 Menschen zum Opfer fielen. Während die Terrorgruppe in Afghanistan zurückgedrängt wird, scheint sie vermehrt im Ausland zu agieren – auch in Europa: Erst vor wenigen Tagen wurden im deutschen Bundesland Thüringen zwei afghanische ISPK-Mitglieder verhaftet, die Anschläge in Schweden geplant haben sollen.
Im Dezember 2023 nahmen deutsche und österreichische Ermittler Mitglieder des ISPK fest, die während der Feiertage Angriffe in Europa geplant haben sollen. Im Sommer desselben Jahres hatte die Polizei Terrorzellen in Deutschland und in den Niederlanden ausgehoben. Und im Sommer 2020 war eine Terrorzelle aufgeflogen, deren Mitglieder unter anderem zwei Stützpunkte der US-Luftwaffe in Deutschland ausgespäht haben sollen. Bereits 2017 hatte ein Mann, der vermutlich mit dem ISPK in Kontakt stand, mit einem Lastwagen einen Anschlag in Stockholm verübt.
Laut dem Washington Institute for Near-East Policy stellen Anschläge des ISPK heute die grösste globale Bedrohung dar, die von allen verschiedenen IS-Gruppen ausgeht. Im vergangenen Jahr hat der ISPK demnach insgesamt 21 Anschläge in neun verschiedenen Ländern geplant. In der Tat scheint der ISPK neben den Zellen, die er in Afghanistan und Pakistan unterhält, auch über erhebliche Kapazitäten für Operationen im Ausland zu verfügen. Zudem sollen enge Verbindungen zu Extremisten in Zentral- und Südasien und im Iran bestehen. Die Zahl der ISPK-Mitglieder wird auf mehr als 1000 geschätzt.
Gemäss einer Analyse des Counter Extremism Project Deutschland (CEP) macht es den Anschein, dass sowohl der IS wie dessen Ableger ISPK anstelle von Anschlägen, die von Einzeltätern verübt werden – wie die Messerattacke in Zürich –, vermehrt komplexe und grosse Terroraktionen planen. Damit kehrten sie zur «klassischen Terrormethode» zurück, «die Ende der 1990er und Anfang der 2000er-Jahre durch Al-Kaida berüchtigt wurde».
Die Gefahrenlage dürfte sich ausserdem aufgrund des Kriegs im Gazastreifen stark verschärft haben – der ISPK versucht derzeit nach Ansicht deutscher Geheimdienstler, den Zorn vieler Muslime gegen Israel und den Westen für sich zu nutzen. Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser nennt die Bedrohung durch den ISPK denn auch «akut», und Frankreich hat nach dem Anschlag in Moskau die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen.
Der Anschlag vom Freitagabend in Moskau war nur einer in einer ganzen Reihe von Terrorattacken in Russland, die bis zum Jahr 1999 zurückreichen. Die ersten Angriffe wurden allerdings meist von Tschetschenen verübt, darunter auch die Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und in einer Schule im nordossetischen Beslan 2004. Beide Aktionen endeten mit einer rücksichtslosen Befreiungsaktion durch russische Sicherheitskräfte, die wesentlich zur hohen Opferzahl beitrugen.
Die beiden Kriege gegen die Separatisten in Tschetschenien, die nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 die Unabhängigkeit ihres Landes mit Gewalt durchsetzen wollten, legten den Keim für den islamistisch motivierten Terror in Russland. Dieser wiederum bot Wladimir Putin Gelegenheit, die Repression im Inneren mit dem Versprechen auf mehr Sicherheit zu verstärken – dies begann bereits vor seiner ersten Amtszeit als Präsident.
Obwohl die Gewaltherrschaft von Putins Statthalter Ramsan Kadyrow in Tschetschenien seit 2007 für Ruhe sorgt, ist der Nordkaukasus ein Unruheherd geblieben. Mit der russischen Militärintervention in Syrien 2015, die dem syrischen Diktator Baschar al-Assad den Machterhalt sicherte, zog sich der Kreml zusätzlich die Feindschaft des «Islamischen Staats» zu, einem der Gegner Assads im syrischen Bürgerkrieg. Bereits im November 2015 schlug der IS mit einem Bombenanschlag auf einen russischen Passagierjet zu.
Entsprechend hat sich der Brennpunkt der terroristischen Aktivität in Russland vom Nordkaukasus nach Zentralasien verlagert. Es fällt zudem auf, dass der ISPK in den vergangenen Jahren sehr viele tadschikische Staatsbürger zu rekrutieren vermochte. Auch mehrere der in Europa verhafteten Terrorverdächtigen stammten aus Tadschikistan. Tadschiken haben wichtige Knotenpunkte im terroristischen Netzwerk des ISPK besetzt; allein im vergangenen Jahr waren sie an 6 der 21 gemeldeten Anschlagspläne der Organisation beteiligt.
Die ehemalige Sowjetrepublik in Zentralasien hat eine mehr als 1300 Kilometer lange Grenze zu Afghanistan. Seit die USA und ihre Verbündeten 2021 aus Afghanistan abgezogen sind, versuchen die Taliban – und in Konkurrenz mit ihnen auch der ISPK –, ihren Einfluss auf das muslimische Nachbarland und darüber hinaus auszudehnen. Russland dient den Islamisten nun auch mangels westlicher Präsenz in der Region vermehrt als Feindbild – die älteren unter ihnen werden sich noch an den verlustreichen Krieg erinnern, den die Sowjetunion von 1979 bis 1989 in Afghanistan führte. In der Terminologie des ISPK sind die christlichen Russen «Kreuzzügler».
Vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hatte Moskau in Tadschikistan starke Truppenkontingente stationiert, um das Einsickern von islamistischen Terroristen zu verhindern. Zeitweise beherbergte der zentralasiatische Staat das grösste russische Truppenkontingent im Ausland. Diese Einheiten sind mittlerweile abgezogen worden; Russland benötigte sie an der ukrainischen Front.
Überdies hat der seit 1994 regierende tadschikische Präsident Emomalij Rahmon der zunehmenden Islamisierung des Landes durch Online-Prediger und Rückkehrer aus dem Ausland kaum etwas entgegenzusetzen. Die Bevölkerung des Landes wächst schnell, und die vielen Jungen haben angesichts der grassierenden Korruption und Armut kaum Perspektiven in ihrer Heimat. Das Regime versucht stattdessen, den Islam durch strenge Regeln und repressive Massnahmen im Zaum zu halten. Ohne Erfolg, wie es scheint.
Putin hat aber mit seiner betont auf angeblich "christliche", ethnisch-russische Werte abzielenden Moral-Feldzugsrhetorik viel Öl ins Feuer gegossen.