Am 9. Mai feiert Russland den «Tag des Sieges» – oder «seinen Triumph» im «Grossen Vaterländischen Krieg» über Hitlerdeutschland. In Moskau können die Teilnehmenden der Festivitäten pompöse Paraden beobachten, Lobesreden verfolgen und Kriegshelden ehren. Dabei tragen sie das orange-schwarz-gestreifte Sankt-Georgs-Band. Es stammt aus der Zarenzeit und symbolisiert heute die Loyalität zum Putin-Regime. Für den russischen Präsidenten ist die diesjährige Feier wichtiger denn je.
Putins Truppen stecken derzeit im Süden und im Osten der Ukraine fest. Im Voraus wurde bekannt, dass die russische Armee am 9. Mai eine Siegesparade in Mariupol plant. Dafür wurden die Hauptstrassen für die «Feierlichkeiten» von Trümmern, Munition und Leichen gesäubert. Einen Erfolg präsentieren zu können, diene nicht nur dem Selbstbild, erklärt Mykola Makhortykh vom Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Universität Bern. «Wenn Putin plant, seine Truppen in der Ukraine zu verstärken, ist der 9. Mai für ihn umso wichtiger, um die Bevölkerung zu mobilisieren.»
Makhortykhs forscht, welche Rolle historische Bezüge in der russischen Propaganda spielen. Für Putin sei der «Tag des Sieges» besonders heilig, sagt der Wissenschafter. Der russische Präsident hat den Feiertag wiederbelebt, nachdem er Ende der Achtzigerjahren zusehends an Bedeutung verloren hatte. Seit 2005 ist der 9. Mai ein Grossereignis.
Zum einen aus politischen Gründen, erklärt Makhortykhs. «Das Narrativ, Nazis bekämpft und besiegt zu haben, ist für den Kreml ein enorm mächtiges Werkzeug.»
Dass Russland seinen Angriffskrieg damit begründet, die Ukraine «entnazifizieren» zu wollen, ist nicht neu. In letzter Zeit schlägt der Kreml aber immer öfters mit der Nazikeule um sich. Aussenminister Sergej Lawrow hat letzte Woche bereits vorgelegt, als er in einem Interview im italienischen Fernsehen sagte, in der Ukraine seien Nazis an der Macht. Wie der ukrainische Präsident Selenskyj habe auch Hitler «jüdisches Blut gehabt». Nachdem sich die israelische Regierung darüber empörte, meinte Lawrow, Israel würde das «Nazi-Regime in Kiew» unterstützen.
Auch Schweden bekommt gerade sein Fett ab. In Russland hängen seit kurzem Plakate, die schwedische Ikonen wie Astrid Lindgren und Ingmar Bergman als Nazisympathisanten bezeichnen. Ein Zufall ist das nicht: Schweden vermutet den Grund für die Anfeindung Moskaus darin, dass es gleich wie Finnland kurz vor dem Nato-Beitritt steht.
Now there is a publicity campaign in Moscow 🇷🇺 saying that 🇸🇪 is a country of Nazis. Are there any limits to these guys? Or are they preparing a ”denazifying” operation against 🇸🇪 as well? I think this will further solidify support for 🇸🇪 joining @NATO. pic.twitter.com/n7RHJQRDjd
— Carl Bildt (@carlbildt) May 3, 2022
Für Putin ist der «Tag des Sieges» auch aus persönlichen Gründen bedeutend. «Putins Familie war vom Zweiten Weltkrieg betroffen. Sein Vater kämpfte und einer seiner Brüder starb während der Leningrader Blockade», erklärt Propaganda-Experte Makhortykhs.
Damit gehe es ihm ähnlich wie anderen Russinnen und Russen seiner Generation. Gleichzeitig hält die russische Kultur den Zweiten Weltkrieg am Leben. «Es gibt tausende Filme und Bücher. Als ich ein Kind war, hatte meine Grossmutter ein grosses Regal, die meisten Romane und Werke darin handelten vom Zweiten Weltkrieg», so der gebürtige Kiewer. Sie erzählten von den Gegnern der Sowjetunion als gesichtslose, unmenschliche Kreaturen, die kamen, um die Bevölkerung zu töten. «Es ist dieses ideale Bild des universell Bösen.»
Der traumatische Teil des Krieges bleibt bis heute im Verborgenen. Dass viele Soldaten der Sowjetunion nicht kämpfen wollten oder Kriegsverbrechen begangen haben, wird verschwiegen. «Es ist ein Trauma, das nie aufgearbeitet und dafür ständig als Heroismus dargestellt wurde.»
Entsprechend erfolgreich ist die Propaganda bei der russischen Bevölkerung, sagt Makhortykh. Zwar könne man momentan keine unabhängigen Umfragen durchführen. «Aber aus den Beweisen, die beobachtet werden können, insbesondere in Online-Diskussionen über den Krieg, würde ich sagen, dass ein grosser Teil der russischen Bevölkerung an das Nazi-Narrativ glaubt, vielleicht mehr als die Hälfte.» Es sind Vorstellungen eines Regimes im Westen, das eine Herrenrasse propagiert, ein totalitäres System entstehen lässt und Andersdenkende in Massen hinrichtet. «Die Propaganda fokussiert auf den Nazi-Vergleich, genau weil die Bevölkerung diesen kulturellen Rucksack hat.»
Was dadurch in den Köpfen passiert: Die russische Territorialerweiterung erhält Legitimation. «Wenn du glaubst, dass deine Regierung Nazis bekämpft, ziehst du auch für sie in den Krieg. Man ist zu Hause stolz auf dich, wenn du Nazis tötest und ihre Städte bombardierst. Selbst wenn es Kriegsverbrechen gibt, werden sie geduldet.»
Dass der Nazi-Vergleich hinkt, spielt dabei für Putin keine Rolle. Man bedenke, dass Stalin selber einen Pakt mit Hitler geschlossen hat. 1939 wurde ein Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion unterzeichnet.
Ein engerer «Freundschafts- und Grenzvertrag» regelte zudem, welche Gebiete im Osten Europas nach dem Krieg zur Sowjetunion und welche zum Deutschen Reich gehören sollten. «Das ist die magische Kraft der Selektivität», erklärt Makhortykh. Nach russischem Verständnis wurde Stalin vom Westen gezwungen, den Vertrag zu unterzeichnen. Ausserdem hat der Diktator damit Zeit gewinnen können, um sich auf den Krieg vorzubereiten, so die Erklärung.
Damit geht ein weiterer Effekt einher: Das Narrativ hindere Putin daran, eine massvolle Politik anzuschlagen und die Probleme Russlands zu lösen. «Putin muss einen kompletten Sieg über die ‹Nazis› verzeichnen können.» Alles andere würde seiner Propaganda widersprechen, so Makhortykh. «Es wird schwierig für den russischen Präsidenten, den Krieg zu beenden, ohne die Unterstützung der Bevölkerung zu verlieren – selbst wenn er es wollte.»
Auch eine neue Regierung hätte es schwer. «Wer Putin stürzt, gilt vom Standpunkt der aktuellen Propaganda selber als Nazi», so Makhortykh. Nötig wäre eine Menge Reflexion des Volkes und dass der Staat freie Informationen gewährleistet.
Das sei vorerst nicht absehbar, sagt Makhortykh. Im Jahr 2014 verbot ein neues Gesetz die «Falsifizierung der Geschichte» wie etwa die Bedeutung der Heldentaten des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes zu schmälern. Was historisch wahr ist, kann der Kreml festlegen, und wer etwas anderes erzählt, muss befürchten, strafrechtlich verfolgt zu werden.
bleibt zu hoffen, dass die konsequenz nicht ein weiteres mal ein zerstörtes europa ist.
Die gefühlt mehr als 50% in den Onlineforen, welche der Propaganda folgen, sind mehrheitlich die "ältere" Generation. Die jüngeren Russen haben dafür einen Begriff - Rooster - Leute über 35, die keine Fremdsprache beherrschen und sich deswegen nur über russische Medien informieren können. Bei der jüngeren und städtischen Bevölkerung verfängt die Propaganda kaum, da viele von denen schon mal im Ausland waren und Internet und soziale Medien via VPN konsumieren, um die Zensur zu umgehen.