Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms durch die russische Armee im Süden der Ukraine hat zu einer riesigen Katastrophe für Menschen, Tiere und Natur geführt. Immer noch sind weite Teile auf beiden Seiten des Flusses Dnipro überflutet und schon sollen die russischen Streitkräfte einen weiteren, kleineren Damm am Fluss Mokri Yaly gesprengt haben.
Durch den barbarischen Akt haben die Gesundheitsrisiken der Bevölkerung enorm zugenommen, sagt der ehemalige Direktor des Schweizerischen Tropeninstituts, Marcel Tanner. Der Dammbruch beeinträchtigt die wichtigste Frischwasserquelle der Krim, den Nord-Krim-Kanal. Auch in den überschwemmten Gebieten im Süden des Gebietes von Cherson wird wegen der Dammsprengung die Trinkwasserzufuhr gefährdet, wie der britische Geheimdienst meldet. Dieser vermutet, dass Russland den Wasserbedarf kurzfristig mithilfe von Reservoirs, Wasserrationierungen und mit der Lieferung von russischem Flaschenwasser auffangen werde.
Noch schlimmer ist aber die sanitäre Krise, welcher die Bevölkerung sowohl auf der ukrainischen wie auch auf der russisch besetzten Seite des Flusses Dnipro ausgesetzt ist. Die Fluten aus dem Kachowska-Stausee haben die Reservoirs, Brunnen und Abwassersysteme überschwemmt und verschmutzt. Aus den Kläranlagen, Abwasserleitungen und Ställen wurden Fäkalien mitgeschwemmt.
Weitere Bakterien und Keime verteilen sich durch die vielen toten Tiere, die in den Wassermassen treiben und in den überfluteten Gebieten verwesen. Auch Fische und andere Wasserbewohner sind verendet auf Flächen, aus denen sich die Flut zurückgezogen hat. «Ist das Trinkwasser mit Fäkalbakterien verunreinigt, führt das zu Erkrankungen im Magen-Darm-Trakt wie Bauchschmerzen und schwerem Durchfall. Zudem besteht das Risiko von Cholera-Ausbrüchen», sagt Tanner. Noch sind bis heute keine Ausbrüche gemeldet worden. Die Gefahr von Fäkalkeimen wird aber noch über viele Wochen bestehen. Diese Keime werden sich auch nach Rückzug der Fluten in Pfützen vermehren.
Neben den Fäkalien werden auch Giftstoffe ins Trinkwasser geschwemmt; Chemikalien, Schwermetalle und Öle aus der Industrie. Schon aus dem Wasserkraftwerk des zerstörten Dammes seien 150 Tonnen Maschinenöl ins Wasser gespült worden. In Cherson befindet sich zudem eine Ölraffinerie. Mitgerissen wurden auch Pestizide, Insektizide und Dünger aus den Landwirtschaftsbetrieben. Durch die jahrelange Bewässerung dieses für die ganze Welt sehr wichtigen Landwirtschaftsgebiets sind die Böden versalzen, dieses Salz wird nun ebenfalls ins Trink- und Grundwasser gespült.
«Die Verseuchung des Trinkwassers führt zu Hauterkrankungen und Verätzungen beim Waschen und Baden», sagt Tanner. Werden Gemüse und Früchte mit verschmutztem Wasser gewaschen, bringt das die Keime in die Nahrungsmittel. Es drohen aufgrund der verschiedenen gesundheitlichen Risiken grössere Ausbrüche und kleinere Epidemien im Katastrophengebiet, am schlimmsten wäre ein Cholera-Ausbruch, erklärt der Basler Public-Health-Experte. Auch das Corona-Virus hat wieder leichteres Spiel, ist jedoch nicht das dominante Problem. Aber durch neue Menschenansammlungen bei der Evakuation aus den Flutgebieten erhöht sich das Risiko für neue und mehr Corona-Ausbrüche.
Befürchtet wird zudem, dass auch eine radioaktive Gefahr drohen könnte. Am Grund des Stausees haben sich nach der Explosion des Kernkraftwerks in Tschernobyl im Jahr 1986 Radionuklide abgesetzt. Werden diese aus dem Stausee weggeschwemmt, könnten auch radioaktive Sedimente zusammen mit anderen Giftstoffen auf den Feldern und Wiesen landen.
Nicht nur das verseuchte Trinkwasser ist für die Menschen ein Problem. Die Fluten haben Tausende der russischen Minen freigeschwemmt. Diese verteilen sich nun in einem noch grösseren Gebiet. «Das Minen-Risiko ist somit schwer abzuschätzen, vor allem für Kinder, welche diese Minen finden, nicht kennen und zur Explosion bringen», sagt Tanner.
Marcel Tanner kennt kriegerische Verhältnisse aus Afrika. In diesen Situationen seien die Arbeit für die öffentliche Gesundheit und direkte medizinische Hilfe sehr erschwert. «Man muss zwischen den kriegsführenden Parteien vermitteln und das Hilfspersonal schützen.» Die Überwachung der Gesundheit und die Versorgung der Menschen sei sehr schwierig, wichtig seien für die Mediziner deshalb Verbindungen zu Helfern in den betroffenen Gebieten. «Um zu helfen, muss ein Netzwerk geschaffen werden. Diese Chance besteht wohl auf der ukrainischen Seite, nicht aber auf der russischen», sagt Tanner.
Zudem fehlt es in solchen Katastrophengebieten rasch an Medikamenten. «An Antibiotika, Schmerzmitteln, aber auch an einfachen Infusionen. Vor allem bei Choleraausbrüchen. Ein einziger Cholerapatient verliert pro Tag etwa sieben Liter Flüssigkeit, die durch isotonische Infusionen ersetzt werden müssen», sagt Tanner. «Die Sprengung des Dammes hat aber nicht nur grosse Gesundheitsrisiken erzeugt, sondern auch eine grosse ökologische Katastrophe mit nachhaltigen Folgen», sagt der Epidemiologe. (aargauerzeitung.ch)