Die Ukraine sieht sich im Osten des Landes mit einem massiven russischen Truppenaufmarsch konfrontiert. «Jetzt ist praktisch der gesamte kampfbereite Teil der russischen Armee auf dem Territorium unseres Staates und in den Grenzgebieten Russlands konzentriert», sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft, die in der Nacht zum Mittwoch auf Telegram veröffentlicht wurde. Russland setzte den Verteidigern der eingekesselten Stadt Mariupol eine weitere Frist. In Deutschland geht die Debatte um die Lieferung schwererer Waffen weiter.
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Die russische Seite habe «fast alle und alles, was fähig ist, mit uns zu kämpfen, zusammengetrieben», sagte Selenskyj. Er forderte erneut Waffen.
Nach Erkenntnissen des Londoner Verteidigungsministeriums verstärkt die russische Armee entlang der Demarkationslinie zum Donbass in der Ostukraine die Angriffe. Die Ukraine wehre aber zahlreiche Vorstösse russischer Truppen ab, teilte das britische Verteidigungsministerium am Dienstagabend unter Berufung auf Geheimdienstinformationen mit. Russische Fortschritte würden weiterhin durch das Gelände sowie logistische und technische Schwierigkeiten behindert. Dazu komme auch die Widerstandsfähigkeit der hochmotivierten ukrainischen Armee.
Dass es Russland nicht gelungen sei, den Widerstand in der umkämpften südostukrainischen Hafenstadt Mariupol auszumerzen sowie die wahllosen russischen Angriffe, die Zivilisten treffen, seien weitere Hinweise darauf, dass Moskau seine Ziele nicht so schnell wie erhofft erreiche.
Moskau kündigte am Dienstagabend eine neue Frist für die in einem Stahlwerk verschanzten letzten Verteidiger in Mariupol an. Generaloberst Michail Misinzew kündigte eine einseitige Feuerpause samt «humanitärem Korridor» aus dem Stahlwerk für Mittwoch, 14.00 Uhr Moskauer Zeit (13.00 Uhr MEZ) an. Im Zuge dieser Feuerpause könnten sich ukrainische Kämpfer ergeben und Zivilisten evakuiert werden, heisst es der Mitteilung des russischen Generaloberst. Russland will die strategisch wichtige Hafenstadt komplett unter Kontrolle bringen. Frühere Ultimaten an die Verteidiger liessen diese verstreichen.
In Deutschland geht die Debatte um eine Lieferung schwerer Waffen auch nach der jüngsten Erklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) weiter. Dem Grünen-Politiker Anton Hofreiter und der FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann gehen Scholz' Äusserungen vom Dienstagabend nicht weit genug. Auch der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zeigte sich unzufrieden.
Scholz hat der Ukraine zugesagt, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu finanzieren. «Wir haben die deutsche Rüstungsindustrie gebeten uns zu sagen, welches Material sie in nächster Zeit liefern kann», sagte er am Dienstag. «Die Ukraine hat sich nun von dieser Liste eine Auswahl zu eigen gemacht, und wir stellen ihr das für den Kauf notwendige Geld zur Verfügung.» Darunter seien wie bisher Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrgeräte, Munition «und auch das, was man in einem Artilleriegefecht einsetzen kann».
Melnyk kritisierte die Ankündigung des Kanzlers als unzureichend. Sie seien in der ukrainischen Hauptstadt Kiew «mit grosser Enttäuschung und Bitterkeit» zur Kenntnis genommen worden, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur. Im ZDF-«heute journal» monierte er zudem: «Die Waffen, die wir brauchen, die sind nicht auf dieser Liste.»
Kanada will schwere Artilleriewaffen zur Verteidigung der Ukraine gegen den Angriff Russlands schicken. Das sagte Premierminister Justin Trudeau am Dienstag in New Brunswick. Details zu den Waffen und ihren Kosten sollen in den kommenden Tagen vorgestellt werden.
Das US-Verteidigungsministerium teilte seine Einschätzung mit, dass die ukrainische Luftwaffe aktuell besser da stehe als vor zwei Wochen. Verbündete Staaten, die mit den gleichen Flugzeugtypen Erfahrung hätten, hätten den Ukrainern dabei geholfen, mehr Flugzeuge einsatzbereit zu machen, erklärte der Sprecher. «In diesem Moment haben die Ukrainer mehr Kampfflugzeuge zur Verfügung als noch vor zwei Wochen.»
Aus der südukrainischen Grossstadt Mykolajiw ist erneut Beschuss gemeldet worden. «Wieder Explosionen in Mykolajiw», schrieb der Bürgermeister der Stadt, Olexander Senkewytsch, am frühen Mittwochmorgen auf Telegram. Über Schäden und Opfer gab es zunächst keine Angaben.
Separatistische Gruppierungen der «Volksrepublik» Luhansk vermeldeten unterdessen die Einnahme einer Kleinstadt im Gebiet Luhansk im Osten der Ukraine. Die Stadt Kreminna sei «vollständig» unter Kontrolle der Einheiten der «Volksrepublik», teilte die Luhansker «Volksmiliz» am Dienstagabend auf Telegram mit.
Laut der jüngsten Analyse des US-Kriegsforschungsinstituts ISW war der Vorstoss nach Kreminna die einzige russische Bodenoffensive binnen 24 Stunden, die «signifikante Fortschritte» gemacht habe.
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geht nach aktuellen Berechnungen davon aus, dass mehr als fünf Millionen Menschen aus der Ukraine vor dem russischen Angriffskrieg ins Ausland geflohen sind. Hinzu kämen etwa 7.1 Millionen Menschen, die innerhalb der Ukraine ihr Zuhause verlassen hätten, sagte die stellvertretende UN-Hochkommissarin des UNHCR, Kelly Clements.
Nach mehr als einem Monat Unterbrechung ist die direkte Kommunikation zwischen dem ehemaligen Kernkraftwerk Tschernobyl und der zuständigen ukrainischen Aufsichtsbehörde wiederhergestellt worden. Das teilte der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, am Dienstagabend unter Berufung auf Informationen der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde mit. Grossi plant noch im April eine Mission von IAEA-Experten zum Standort Tschernobyl zu leiten.
Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock reist nach Lettland, Estland und Litauen. Im Mittelpunkt der Gespräche steht nach Angaben des Auswärtigen Amtes die Reaktion von EU, Nato und internationaler Gemeinschaft auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Weiteres Thema dürfte die Sicherheitslage in der gesamten Region sein.
Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak trifft in Washington seinen US-Kollegen Lloyd Austin.
(sda/dpa)