Pokrowsk steht vor dem Fall
Seit dem Fall der Industriestadt Awdijiwka im Februar 2024 hiess das nächste Ziel der russischen Invasoren im ukrainischen Donbass Pokrowsk. Der wichtige Verkehrsknotenpunkt mit früher einmal 60’000 bis 65’000 Einwohnern gehörte dank des Kohlebergbaus zu den wohlhabenderen Agglomerationen im Oblast Donezk. Allerdings benötigten die Russen für die knapp 50 Kilometer von Awdijiwka bis nach Pokrowsk 21 Monate.
Schätzungen der russischen Verluste reichen von einigen Tausend Toten bis zu mehreren Zehntausend Toten und Verwundeten sowie Hunderten zerstörten Panzerfahrzeugen. Selbst russische Kommentatoren sprechen von einem horrenden Blutzoll, vor allem wegen ukrainischer Drohnenangriffe.
Eine Lücke von drei Kilometern
Die wirkliche Schlacht um Pokrowsk begann im Sommer 2024. Noch kurz zuvor hatte die Stadtverwaltung Rosen in den Verkehrskreiseln pflanzen lassen – wie wenn es ihr darum gegangen wäre, den näherrückenden Russen einen angenehmen Empfang zu bereiten. Allerdings bekundeten die Invasoren grosse Mühe, schon nur in die unmittelbare Nähe des Bevölkerungszentrums zu gelangen.
Ihre Rolle als Verkehrsknotenpunkt büsste die Stadt ein, nachdem die Russen den Bahnhof bombardiert hatten und damit den Abtransport von Kohle aus den Bergwerken der Umgebung verhinderten. Im Februar 2025 erreichten Putins Streitkräfte die Verbindungsstrasse zwischen Pokrowsk und der nordöstlich davon gelegenen Stadt Kostiantiniwka.
Mit diesem Vorstoss begann sich die Niederlage der Ukrainer abzuzeichnen, denn von der Verbindungsstrasse drangen die Russen im Mai weiter nach Norden vor und trieben so einen Keil zwischen den Zwillingsstädten Pokrowsk und Myrnograd im Westen und den drei unter ukrainischen Kontrolle verbleibenden Städten Kostiantiniwka, Kramatorsk und Slowiansk im Nordosten.
Zwar konnten Kiews Truppen – dank Verstärkungen von anderen Frontabschnitten – diesen Keil ab Mitte August wieder verkleinern, doch Myrnograd und Pokrowsk blieben auf drei Seiten umzingelt.
Im Moment bleibt den Ukrainern eine Lücke von etwa drei Kilometern Breite, um sich aus dem Kessel zurückzuziehen. Doch es ist noch nicht einmal klar, ob der Oberkommandierende, General Sirskij, überhaupt schon den Befehl zum Rückzug gegeben hat. Schon vor der Niederlage in Awdijiwka hatte die Militärführung viel zu lange gezögert, bis sie den Soldaten endlich erlaubte, ihre Stellungen zu verlassen – mit entsprechendem Blutzoll, der vermeidbar gewesen wäre.
Chaos in der Stadt
Die ukrainische Führung bestreitet zwar, dass Pokrowsk umzingelt sei. Das ist technisch zwar korrekt, doch mit ihren Drohnen können die Russen alle möglichen Wege aus dem Kessel konstant bedrohen, dank Wärmebildkameras auch in der Nacht. An der misslichen Lage der Ukrainer ändern solche Dementis nichts.
Nur schlechtes Wetter, also vor allem Bodennebel, könnte den Verteidigern helfen, sich aus der Umklammerung zu befreien. Schlechtes Wetter hatten die Angreifer in den letzten Wochen auch ausgenützt, um unentdeckt von ukrainischen Drohnen mit kleinen Gruppen von Soldaten bis ins Stadtzentrum vorzudringen.
Russische Medien berichten derweil, dass sich Teile der 68. Jäger-Brigade der ukrainischen Armee im Zentrum von Pokrowsk ergeben hätten, allerdings ohne Bildbeweise zu liefern. Ein ukrainischer Unteroffizier sprach demgegenüber von chaotischen Zuständen. Freund und Feind liessen sich oft nicht mehr unterscheiden, und manchmal bekämpften sich Russen und Ukrainer innerhalb desselben Gebäudes.
Offenbar hat die ukrainische Militärführung weitere Eliteeinheiten nach Pokrowsk geschickt, darunter auch eine mit zwei Helikoptern transportierte Luftlandegruppe des Militärgeheimdiensts. Während die einen Ukrainer in diesem Zusammenhang von einer Gegenoffensive sprechen, liegt die Interpretation näher, dass die Elitesoldaten den Rückzug der verbliebenen Kampfverbände aus Pokrowsk und dem weiter östlich gelegenen Myrnograd vorbereiten sollen.
Der erwähnte Unteroffizier gab allerdings zu bedenken, dass die Ukrainer kaum noch Infanterie in den Stellungen ausserhalb der Stadt hätten, sondern das offene Gelände vor allem mit Drohnen verteidigten.
Grosse graue Zone
Laut ukrainischen Medien weisen die Russen bei Pokrowsk eine rund fünffache zahlenmässige Überlegenheit auf. Schon länger betonte General Sirskij die Bedeutung der russischen Offensive in diesem Bereich: Moskau habe mehr als 100’000 Soldaten in Marsch gesetzt, um den ehemaligen Verkehrsknotenpunkt nun endlich zu erobern.
Damit handelt es sich um die mit Abstand grösste Schlacht in der Ukraine. Ein erheblicher Teil der Stadt scheint inzwischen zur so genannten grauen Zone zu gehören. Damit sind Gebiete gemeint, in denen beide Kriegsparteien mit Soldaten und Stützpunkten präsent sind, aber niemand die volle Kontrolle ausübt.
Der Fall von Pokrowsk käme den russischen Soldaten gelegen, weil sie sich in den Ruinen ein Winterquartier einrichten könnten. Und von Pokrowsk aus würden sie bestimmt weiter nach Norden vorstossen, um am Ende Putins wichtigstes Kriegsziel im Donbass, die Grossstadt Kramatorsk, anzugreifen. (aargauerzeitung.ch)
