Pünktlich und entspannt taucht Niall Ferguson im Davoser Hotel «Belvédère» auf, wo wir uns zum Interview verabredet haben. Er hat die ganze Woche über Reden auf Auftritte von Staatschefs verfolgt, die oft sehr düster klingen. Ferguson beurteilt mit historischem Blick vieles anders.
Krieg, Klimawandel, Migration, Energiemangel: Die Welt erlebt gerade mehrere Krisen gleichzeitig. Welche hat die schwersten Konsequenzen?
Niall Ferguson: Zunächst möchte ich klarstellen: Diese Krisen sind nicht ungewöhnlich. Ebenso wenig deren Häufung. In jedem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hätten Sie rufen können: Wir haben eine Poly-Krise! Dieses Wort (mehrere Krisen aufs Mal, die Red.) ist zu einem Modebegriff geworden. Dabei macht er keinen Sinn, denn er ist redundant.
Wie meinen Sie das? Eine einzelne Krise kann es gar nicht geben, Krisen treten immer im Plural auf?
Ja. Die Welt ist ein komplexer Ort. In meinen Forschungsarbeiten komme ich immer zum selben Schluss. Wenn in unserem globalen System irgendwo eine Störung auftritt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Kaskade oder einer Lawine von Folgekrisen hoch. Ich erinnere mich an meine erste WEF-Teilnahme im Jahr 2009...
... da war die Finanz- und Währungskrise das dominierende Thema.
Genau. Sie hatte weitreichende Konsequenzen: Massive Kritik an der Globalisierung, was wiederum zu Donald Trumps Wahl und zum Brexit beitrug - und als weitere Folge der neue Kalte Krieg zwischen den USA und China. Der Arabische Frühling hatte ebenfalls Bezüge zur Finanzkrise.
Die Coronapandemie hingegen scheint eine isoliert entstandene Krise zu sein.
Der Zeitpunkt mag Zufall gewesen sein, aber in der Geschichte hat es schon immer Pandemien gegeben, und was interessant ist: Sie geschahen oft parallel zu Kriegen. Jetzt haben wir wieder einen Krieg in Europa. Er ist schrecklich. Aber wir haben nicht mehr oder nicht weniger Krisen als vor hundert Jahren, in den 1920er-Jahren. Und wenn ich wählen könnte, damals oder jetzt zu leben, würde ich nie und nimmer mit der Zeitmaschine zurückreisen wollen.
Leben wir nicht in einer furchtbar gefährlichen und deprimierenden Zeit?
Historisch gesehen überhaupt nicht. Nehmen Sie die Coronapandemie. Sie war zwölfmal weniger tödlich als die Influenza 1918 und 1919. Die tötete damals viele junge Leute. Corona tötete hingegen alte Leute. Das ist sehr ungewöhnlich für eine Pandemie – und viel weniger schlimm. Corona war die beste Pandemie, die es geben konnte.
Aber was ist mit dem Krieg in der Ukraine? Es ist der erste Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Furchtbar. Aber im Vergleich zu den Standards des 20. Jahrhunderts ist es ein Krieg mit sehr kleinen Armeen. Die Russen marschierten mit 120'000 oder 130'000 Mann ein. Schlimm genug. Doch Stalin und Hitler hätten gelacht über diese Aufgebote.
Pandemie, Krieg: Für Sie im historischen Vergleich also keine grossen Krisen. Was aber ist mit der Inflation?
In den Medien herrscht grosse Aufregung über die angeblich «historisch hohe Inflation». Dabei erreichte sie in den USA nicht mal 10 Prozent. In Europa lag sie zum Teil höher, aber sie kommt nun rasch runter. Es gab ganz andere Zeiten. Darum: Bitte kein Gerede vom Krisen-Jahr! 2023 könnte sehr langweilig werden. Womit ich natürlich nicht den Krieg meine.
Dass wir Krisen haben, ist schwer aus den Köpfen zu bringen...
...weil die Erzählung von der Krise sehr attraktiv ist, für Journalisten, prominente Intellektuelle und natürlich auch für das WEF in Davos. Die Welt steht vor dem Untergang! Lasst uns darüber diskutieren! Lasst uns sofort einen radikalen Wandel einschlagen!
Warum berauschen wir uns an den multiplen Krisen, warum die Untergangseuphorie?
Wir fühlen uns wichtig, wenn wir in der angeblich schrecklichsten aller Zeiten leben. Jede Generation hat ihre eigene Version dieser Wahrnehmung. Das Untergangsnarrativ garantiert Aufmerksamkeit. Umgekehrt kriegt niemand einen Preis, wenn er sagt: Wir leben in der besten aller Zeiten!
In Davos sind die einflussreichsten und viele der nach eigener Wahrnehmung klügsten Menschen der Welt zusammengekommen. Dass sie mehrheitlich pessimistisch sind, muss doch seinen Grund haben?
Das beunruhigt mich nicht. Oder besser gesagt: Es beruhigt mich. Denn ich habe festgestellt: Wenn Davos sehr bullish ist (also optimistisch, die Red.), dann solltest du bearish sein (pessimistisch). Und umgekehrt.
Dass der Klimawandel in Davos ein so grosses Thema war, ist aber nachvollziehbar, oder nicht?
Spitzenpolitiker halten hier apokalyptische Reden wegen der Klimaerwärmung. Dann rede ich mit Vertretern der Privatwirtschaft, und die sagen: Uns läuft's gut, besser als erwartet, die europäische Energiekrise ist überstanden. Kurzum: Das Ende der Welt ist nah, und die Märkte jubeln. Das ist alles sehr widersprüchlich. Verstehen Sie mich richtig. Es führt kein Weg daran vorbei, den Anstieg der Temperaturen zu stoppen. Aber Europa und die USA werden scheitern.
Die Klimaerwärmung lässt sich nicht stoppen?
Was immer Europa oder auch die USA tun: Es fällt nicht gross ins Gewicht, solange China, Indien und der Rest Asiens weiterhin Kohle verbrennen. Und das tun sie. Auch, um Strom damit zu produzieren, mit denen sie dann die Abermillionen von Elektrofahrzeugen laden.
Beim Klimawandel scheinen Sie der Schwarzmaler zu sein.
Nein, ich glaube, technologische Lösungen sind in Griffnähe. Die Solarenergie wird massiv effizienter. Die Fortschritte in der Nuklearenergie sind riesig. Sogar die Kernfusion rückt näher. Und Wasserstoff hat grosses Potenzial. Wichtig scheint mir auch die Feststellung: Der Klimawandel ist nicht unmittelbar tödlich wie eine Pandemie. Er ist, wenn man die Übersterblichkeit zum Massstab wird, in keiner Weise so gefährlich, wie er gemeinhin dargestellt wird.
Was läuft falsch in der Klimapolitik?
Ich finde die Alarmrufe, man müsse die Klimaerwärmung sofort stoppen, seltsam, wenn man es nicht zugleich wagt, die Chinesen dazu aufzurufen, auf Kohle zu verzichten. Entweder tut man das. Oder man wartet auf die neuen Technologien und versucht die Folgen des Klimawandels so gut wie möglich abzufedern. Und da muss man den Tatsachen ins Auge sehen: Es wird mehr Migration aus den immer heisseren Ländern Afrikas nach Europa geben - wie gehen wir damit um? Diese Frage stellt niemand. Dabei ist sie zentral, vor allem auch, weil Afrikas Bevölkerung wächst und wächst, während China erstmals schrumpft.
Sie stören sich an den Widersprüchen und Tabus der Klimapolitik?
Ich habe noch gar nicht alle Widersprüche aufgezählt. Deutschland setzt ja jetzt auch wieder mehr auf Kohle. Aber wir müssen doch einfach mal sagen: Die Welt wird nicht untergehen wegen des Klimawandels. Sie verändert sich nur. Eine Veränderung ist mehr Migration. Das ist ein Prozess, den man Geschichte nennt.
Vom Klima zurück zum Krieg. Wenn Ihre These stimmt, wonach eine Krise weitere Krisen nach sich zieht, dann muss uns die Aufrüstung der Militärbudgets besorgen, die zurzeit fast alle Staaten beschliessen.
Ein guter Punkt. Kriege sind wie die Busse in London. Du wartest ewig auf den Bus, nichts passiert, und dann kommen gleich drei Busse hintereinander. Ich weiss, in der Schweiz stimmt dieses Bild nicht. Aber leider allzu oft für Kriege. Bricht ein Krieg aus, ist es wahrscheinlich, dass es nicht bei diesem einen Krieg bleiben wird – wegen der Folgen des Initialkriegs, etwa der Energieversorgungs-Schocks. Wohl nicht gleich in diesem Jahr, aber in diesem Jahrzehnt halte ich weitere Kriege für sehr wahrscheinlich.
Wo sehen Sie Kriegsrisiken?
Augenscheinlich ist das Risiko in Taiwan. China und die USA befinden sich hier auf Kollisionskurs. Ein Risiko erkenne ich auch im Iran. Dass es dort Krieg geben könnte - davon habe ich in Davos in keiner einzigen Rede etwas gehört. Obwohl sich die Situation immer mehr zuspitzt. Im Iran herrscht ein radikales Regime. Es hat eben die Proteste brutal niedergeschlagen. Ohne neuen Atom-Deal, und einen solchen wird es nicht geben, ist der Weg zur Atommacht Iran relativ kurz. Bereits heute ist Iran in Stellvertreterkriege involviert, die sich gegen Saudi-Arabien richten. Und vergessen Sie nicht: Israel hat eine neue Regierung unter Netanyahu, die bezüglich Iran eine sehr harte Politik verfolgt.
Wann gehen Sie von einem Kriegsausbruch in Taiwan oder Iran aus?
Das könnte noch geschehen, bevor der Krieg in der Ukraine beendet ist. Dann hätten wir zusätzliche Kriege im Nahen und im Fernen Osten. Wir leben in einer neuen Ära des Kalten Krieges. Im ursprünglichen Kalten Krieg geschahen immer wieder auch heisse, also wirkliche Kriege. Das dürfte auch jetzt wieder der Fall sein.
Also lokale Kriege, aber kein Dritter Weltkrieg?
Ein Dritter Weltkrieg zwischen China und den USA wäre eine zu grosse Katastrophe. Darum geschieht er nicht. Regionale Kriege sind aber auch nicht unwesentlich, zumal es heute eine Achse gibt mit China, Russland und Iran.
Am WEF hatte es wieder mehr Teilnehmer aus China, und es herrscht die Grundstimmung vor: China lässt Taiwan in Ruhe, weil ein Krieg wirtschaftlich nur schaden würde. Ist das naiv?
Der globale Risiko-Report des WEF ist eine Institution und wird in den Medien stark beachtet. Doch er liegt fast immer falsch. 2020 nannte dieser Report als grösste Risiken: Klimawandel, Klimawandel, Klimawandel.
Das war im Januar 2020, als in China bereits das Coronavirus wütete und man sich in Davos physisch traf, wie wenn nichts wäre.
Pandemien wurden im globalen Risiko-Report seit 2008 schlicht und einfach nicht mehr erwähnt. Ich erinnere mich an das WEF 2020, alle redeten über Greta Thunberg, und ich fragte mich: Warum um Himmels willen sprechen die über Temperaturen, wenn gerade eine gewaltige Pandemie im Anzug ist? Ich schaute auf die Teilnehmerliste und sah, dass mindestens fünf Personen aus Wuhan in Davos waren. Ich schrieb WEF-Gründer Klaus Schwab ein E-Mail und fragte ihn, ob ihm bewusst sei, dass sein Kongress ein Superspreader-Event werden könnte. Er antwortete nicht. Das WEF hatte riesiges Glück, dass das Virus haarscharf an Davos vorbei ging und dann in anderen Skiresorts explodierte.
Aber jetzt öffnet China sein Land, und das Business kann wieder beginnen.
Genau. Lasst uns wieder Geld machen in China, um Taiwan kümmern wir uns dann später! Diese Haltung ist brandgefährlich. Zwischenstaatliche Auseinandersetzungen stehen in der Tabelle des globalen Risiko-Reports erst auf Rang 14, aber wir sind hier leider nah dran an einer Eskalation. Vergessen Sie nicht: Nächstes Jahr sind Wahlen in Taiwan. Wenn da aus chinesischer Sicht die «Falschen» gewinnen, kann es sehr schnell gehen.
Diese Einstufung ist äusserst wichtig, um nicht pausenlos panisch im Krisenmodus zu agieren.