Am 4. November 1979 stürmten radikale Anhänger von Ajatollah Chomeini, dem Anführer der islamischen Revolution, die US-Botschaft in der iranischen Hauptstadt Teheran. 52 Diplomaten der Vereinigten Staaten wurden als Geiseln genommen, um die Auslieferung des wenige Monate zuvor in die USA geflohenen Schah Reza Pahlewi zu erreichen. Die Geiselnahme sollte 444 Tage andauern.
Am 4. April 1980 brachen die USA sämtliche diplomatischen Beziehungen mit der Islamischen Republik Iran ab. Im selben Jahr baten die USA die Schweiz, ihre Interessen im Iran zu vertreten.
Die Interessenvertretung der Vereinigten Staaten im Iran ist das wohl wichtigste der derzeit fünf sogenannten Schutzmachtmandate, mit denen die Eidgenossenschaft beauftragt worden ist.
Gemäss dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) helfen diese Mandate, «minimale Beziehungen» zwischen Staaten aufrechtzuerhalten, welche die Beziehungen zueinander abgebrochen haben. Auch zwischen den USA und dem Iran übernimmt die Schweiz eine Art «Briefträgerfunktion» und ermöglicht es so, vertrauliche Botschaften zwischen den beiden Regierungen zu übermitteln.
Laut Berichten des «Wall Street Journal» (kostenpflichtiger Artikel) und der «New York Times» war dies auch in der jüngsten Krise zwischen den USA und dem Iran der Fall. Die genaue Rekonstruktion der Ereignisse durch die beiden Zeitungen ermöglicht einen faszinierenden Blick auf die entscheidende Rolle, welche die Schweizer Diplomatie dabei gespielt hat.
Bagdad, Irak: In den frühen Morgenstunden landet Ghassem Soleimani, Kommandant der Kuds-Brigaden, von Damaskus her kommend in der irakischen Hauptstadt. Kurz nachdem sein aus zwei Fahrzeugen bestehender Konvoi das Flughafengelände verlassen hat, wird er von einer US-Drohne des Typs MQ-9 Reaper beschossen – auf direkten Befehl von US-Präsident Donald Trump. Soleimani und seine neunköpfige Entourage sind auf der Stelle tot.
Der General gilt als zweitwichtigster Mann des iranischen Regimes nach Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei. Seine Tötung, soviel ist klar, bedeutet eine weitere Eskalation im ohnehin schon angespannten Verhältnis zwischen den USA und Iran.
Teheran, Iran: In einem hermetisch abgesicherten Raum in der Schweizer Botschaft an der Sharif Manesh Avenue beginnt ein Faxgerät zu rattern. Nur wenige hochrangige Botschaftsmitarbeiter haben Zutritt zu diesem Zimmer. Der Fax kommt aus dem EDA in Bern und wird über einen verschlüsselten Kommunikationskanal der Schweizer Regierung übermittelt.
Der Inhalt des Faxes: «Don't escalate» – nicht eskalieren. Dies berichten mehrere hochrangige US-Beamte gegenüber dem «Wall Street Journal». Urheber der Nachricht ist die US-Regierung in Washington. Die Nachricht wird wenige Minuten, nachdem das Pentagon die Tötung Soleimanis offiziell bestätigt hat, der Schweizer Botschaft in Washington überbracht. Von dort finden die Worte über abgesicherte Kanäle den Weg ins EDA nach Bern, von wo aus das Fax nach Teheran übermittelt wird.
Markus Leitner, der Schweizer Botschafter im Iran, macht sich unverzüglich auf den Weg ins Aussenministerium der Islamischen Republik. Dort wird er von Irans Aussenminister Jawad Sarif empfangen und überbringt ihm die Botschaft aus Washington persönlich.
Bagdad, Irak: Die Lage im Nahen Osten scheint dramatisch zu eskalieren. In der irakischen Hauptstadt skandieren tausende Demonstranten «Tod für Amerika». Raketen gehen in der hoch gesicherten «Green Zone» im Zentrum Bagdads nieder, wo sich die US-Botschaft befindet.
Irans oberster Führer Ajatollah Ali Chamenei kündigt «schwere Rache» für die Tötung Soleimanis an. Die USA verlegen hunderte von zusätzlichen Soldaten nach Kuweit, um für einen grösseren bewaffneten Konflikt in der Region vorbereitet zu sein.
Auf Twitter schlagen beide Seiten zunehmend schrille Töne an. US-Präsident Donald Trump verkündet, die USA hätten eine Liste mit 52 Zielen innerhalb Irans vorbereitet, darunter Orte von grossem kulturellem Wert. Sollte Iran amerikanische Bürger oder Einrichtungen angreifen, würden die Ziele auf der US-Liste «sehr schnell und sehr vernichtend angegriffen» werden.
....targeted 52 Iranian sites (representing the 52 American hostages taken by Iran many years ago), some at a very high level & important to Iran & the Iranian culture, and those targets, and Iran itself, WILL BE HIT VERY FAST AND VERY HARD. The USA wants no more threats!
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) January 4, 2020
Der iranische Aussenminister Jawad Sarif seinerseits bezeichnet seinen US-Amtskollegen Mike Pompeo auf Twitter als «arroganten Clown, der sich als Diplomat verkleidet». Das Ende der «unheilvollen Präsenz» der USA in der Region sei nahe.
24 hrs ago, an arrogant clown— masquerading as a diplomat— claimed people were dancing in the cities of Iraq.
— Javad Zarif (@JZarif) January 4, 2020
Today, hundreds of thousands of our proud Iraqi brothers and sisters offered him their response across their soil.
End of US malign presence in West Asia has begun. pic.twitter.com/eTDRyLN11c
Die Kriegstrommeln erklingen immer lauter, so scheint es. Doch Aussenminister Sarif, der auf Twitter martialische Töne anschlägt, ruft am selben Tag den Schweizer Botschafter an. Der Tonfall der Nachricht, die Markus Leitner via Bern nach Washington übermittelt, ist bedeutend zurückhaltender, als es die öffentlichen Verlautbarungen des iranischen Regimes vermuten lassen.
«Als die Spannungen mit Iran gross waren, haben die Schweizer eine hilfreiche und zuverlässige Rolle gespielt, welche beide Seiten zu schätzen wussten», sagt ein ranghoher US-Beamter gegenüber dem «Wall Street Journal».
Militärbasis Al-Asad, Irak: Im Iran abgefeuerte Raketen gehen auf diesem Luftwaffenstützpunkt in der westirakischen Provinz Anbar und auf einem anderen Stützpunkt des US-Militärs nahe der nordirakischen Kurdenmetropole Erbil nieder. Doch Todesopfer gibt es keine. Die US-Geheimdienste haben im Vorfeld Hinweise gesammelt, wonach ein solcher Angriff in Kürze bevorsteht. Unmittelbar, bevor sie die Raketen abfeuern, warnen die Iraner die USA vor – dieses Mal via die irakische Regierung. Die US-Soldaten auf den angegriffenen Militärstützpunkten begeben sich rechtzeitig in Schutzbunker.
Wie die «New York Times» berichtet, lässt die iranische Führung unmittelbar nach dem Raketenangriff durch Botschafter Markus Leitner den USA eine Mitteilung zukommen. Mit dem Angriff auf die Militärbasen sei die Reaktion auf Soleimanis Tötung abgeschlossen. Eine weitere Eskalation seitens Iran sei nicht vorgesehen. Der Schweizer Botschafter übermittelt die Nachricht sofort auf verschlüsselten Wegen via Bern an die Schweizer Vertretung in Washington. Von dort gelangt sie direkt zu Aussenminister Mike Pompeo und zu Präsident Trump.
Wie die «New York Times» schreibt, sind die Amerikaner beeindruckt vom Tempo, mit dem die Nachricht durch den Schweizer Kanal übermittelt wird. Keine fünf Minuten habe es gedauert zwischen dem Erhalt der Mitteilung der iranischen Regierung durch die Schweizer Vertretung in Teheran und dem Moment, in dem deren Inhalt US-Präsident Donald Trump vorlag.
Die USA sehen in der Folge davon ab, militärisch auf den Beschuss ihrer Militärbasen zu reagieren. In einer Rede am nächsten Morgen sagt Trump, der Iran scheine seine Aggressionen eingestellt zu haben. Zu diesem Schluss sind der Präsident und seine Berater gemäss der «New York Times» auch dank der von der Schweiz übermittelten Nachricht aus Teheran gekommen. Tatsächlich hat es seither keine nennenswerten iranischen Angriffe mehr gegeben.
Der von der Schweiz zur Verfügung gestellte Kommunikationskanal wird von beiden Seiten weiterhin fleissig benutzt, wie das «Wall Street Journal» schreibt. Ehemalige Schweizer Botschafter in Teheran sagen gegenüber der Zeitung, der Kommunikationsweg via Bern sei deswegen effektiv, weil die USA und Iran wüssten, dass die Botschaften vertraulich, schnell und nur an die dafür vorgesehenen Empfänger übermittelt würden. Die Nachrichten seien jeweils «präzise, diplomatisch und frei von Emotionen» formuliert.
Flughafen Zürich: Das letzte Mal für Schlagzeilen sorgte das Schweizer Schutzmachtmandat für die USA in Iran im vergangenen Dezember. Auf dem Flughafen Zürich fand ein Gefangenenaustausch zwischen den beiden Staaten statt. Schweizer Diplomaten choreographierten die Übergabe der Gefangenen auf dem Rollfeld. Derweil warteten Brian Hook, der US-Sondergesandte für den Iran, und Aussenminister Jawad Sarif in getrennten Räumlichkeiten des Flughafens Kloten darauf, ihre Staatsbürger in Empfang zu nehmen.
Bill Richardson, ein ehemaliger Uno-Botschafter der USA und erfahrener Krisendiplomat, half während Monaten mit, den Gefangenaustausch zwischen den beiden verfeindeten Staaten zu ermöglichen. Der Schweizer Kanal, so Richardson gegenüber dem «Wall Street Journal», sei enorm wichtig geworden, weil die Diplomaten des EDA kurzfristig dafür sorgen könnten, Spannungen abzubauen: «Es ist der einzige brauchbare Kanal, den wir momentan haben».