Sie haben sich einen Film angeschaut, der Ihnen ungeheuer nahe gegangen ist. «September 5» von Tim Fehlbaum über das Terrorattentat der palästinensischen Gruppe «Schwarzer September», die an den Olympischen Sommerspielen von München 1972 das gesamte israelische Olympiateam ausgelöscht hat. 1972 waren Sie 14 Jahre alt und lebten in München. Ihr Vater hat für die Olympischen Spiele gearbeitet.
Elisabeth Bronfen: Genau, er war olympischer Attaché für die dänische Equipe. Wie er an diesen Job gekommen ist, weiss ich nicht genau, mein Vater war Rechtsanwalt und arbeitete in München an Fällen, die zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Gesetz lagen. Als Amerikaner und Sohn von jüdischen Auswanderern aus Osteuropa hatte er grosse Sympathien für die Dänen. Denn der dänische König Christian X. hatte sich während dem Nationalsozialismus einen Judenstern angeheftet und gesagt: «Wir sind alle Juden!» und dafür gesorgt, dass 7000 dänische Juden nach Schweden fliehen konnten.
Wie muss ich mir jetzt diesen 5. September 1972 vorstellen? Haben Sie da den ganzen Tag vor dem Fernseher verbracht?
Überhaupt nicht. Der Fernseher wurde nur eingeschaltet, wenn man etwas ganz Spezifisches sehen wollte, die «Tagesschau» oder Serien wie «Flipper» oder «Bonanza». Die Wahrheit ist: Ich kann mich nicht mehr an den Ablauf erinnern, ich kann mich nur noch daran erinnern, dass mein Vater das alles sehr schnell mitbekommen hat und dass wir plötzlich wussten, es ist etwas sehr Schreckliches passiert. Aber konkret erinnere ich mich an das Foto des maskierten Terroristen auf dem Balkon, das war ein ganz, ganz furchtbares Angstbild, eine Urbedrohung, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat.
Und wie erging es Ihnen nun im Kino?
Ich habe zum gleichen Thema schon «Munich» von Steven Spielberg (2005) gesehen, dieser Film hat überhaupt nichts bei mir ausgelöst. Aber «September 5» hat mich völlig fertig gemacht. Erst nachdem ich das Kino verlassen hatte und merkte, wie furchtbar aufgewühlt ich war, ist mir klar geworden, dass der Film in mir einen Affekt ausgelöst hat, von dem ich gar nicht wusste, dass der noch da ist.
Können Sie den Affekt beschreiben?
Es ist dieses Gefühl der Bedrohung: Da sind diese «unschuldigen» Sportler, die sitzen in ihrem Zimmer im neu gebauten Münchner Olympiadorf, alles ist aufgeladen und euphorisch, mein Vater geht dauernd an wichtige Empfänge und aufregende Partys … Und dann sind da plötzlich diese maskierten Männer mit ihren Kalaschnikows, die eingedrungen sind, wo sie nicht hätten eindringen dürfen. Dazu die Anspannung: Gehen die Spiele weiter, gehen sie nicht weiter? Und dann gibts diese Zuspitzung ...
… auf das schrecklichst mögliche Ende hin. Man weiss ja, wie der Tag zu Ende gegangen ist.
Auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck glaubt man gegen 23.30 Uhr für einen kurzen, alle erlösenden Moment, die Geiseln seien befreit, alle sind berauscht von der Idee, dass das Drama glücklich ausgegangen ist – wenig später sind die Geiseln tot. Fürstenfeldbruck war uns sehr vertraut, da war die amerikanische Air Force, und auf AFN Radio (American Forces Network) haben wir immer wieder Beiträge über Veranstaltungen gehört, die dort stattgefunden haben.
Nach dem Film hat man das Gefühl, dass 21 Stunden lang taktische Fehler begannen wurden. War das so?
Uns alle erschütterte die absolute Inkompetenz der Münchner Polizei schwer. München war ja der Anfang einer Reihe von Terroranschlägen in den 70ern. Doch erst bei der Befreiung der «Landshut» 1977 auf dem Flughafen von Mogadischu durch den Bundesgrenzschutz hatten wir das Gefühl, jetzt habe die deutsche Polizei endlich was gelernt. In München war sie überfordert und unvorbereitet, das waren normale bayrische Polizisten, die alle Fehler machten, die sie machen konnten. Sie versuchten etwa, als Köche verkleidet ins Haus der israelischen Crew reinzukommen, absurd!
Wie gross war die symbolische Bedeutung, die auf den Spielen lastete?
Das waren die ersten Olympischen Spiele in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und es war ganz klar, dass mit ihnen die von Leni Riefenstahl gefilmten Spiele von 1936 überschrieben werden sollten. München wollte der Welt ein neues Deutschland, ein Fest der Freude zeigen und eine Form der Wiedergutmachung darstellen – und mein Gott, ging das schief.
Diese Spiele waren auch das erste weltweit live übertragene Grossereignis der TV-Geschichte. Die Krönung der Queen etwa hatte man nur in Europa live sehen können. Wie veränderte der 5. September 1972 die mediale Berichterstattung?
Das war der Anfang von globaler News-Berichterstattung und damit auch der Beginn der medialen Globalisierung. Man brauchte Zugang zu einem Satelliten und konnte von irgendwoher auf der Welt in Echtzeit Nachrichten liefern. Sofort vor Ort. Damals gabs keine Push-Nachrichten, Breaking News und Nachrichten rund um die Uhr. Die «Tagesschau» hatte ihre festen Sendezeiten, das wars. Und plötzlich sendet dieses in München stationierte Sport-Berichterstattungs-Team der ABC stundenlang News über den Terroranschlag in die Welt hinaus. In Deutschland selbst senden ARD und ZDF und das Radio nonstop. Zum ersten Mal.
Der Film zeigt enorm fesselnd, wie viel da improvisiert werden musste und wie erfindungsreich die Arbeit unter den Bedingungen einer veralteten Kommunikationstechnik waren.
Niemand steht mit dem Mobiltelefon daneben und sendet selbst auf tausend Kanälen. Die ganze mediale Mechanik ist im Film sehr faszinierend – Telefonhörer werden auseinandergeschraubt und in Lautsprecher verwandelt, man hackt sich in den Polizeifunk, um schneller an Informationen zu kommen, Filmrollen müssen in Windeseile ins Studio transportiert werden, unterschiedliche Funkgeräte sind im Einsatz und Telefonkabinen sind unersetzlich, wenn es um den Informationsaustausch über längere Distanzen geht.
Und alle arbeiten im Film mit einer riesengrossen Ernsthaftigkeit.
Ja. Denn immer besteht die Gefahr, dass man bei dieser ersten Live-Schaltung eines Terroranschlags in der Mediengeschichte überhaupt die Kontrolle verlieren könnte, dass eine Exekution vor laufender Kamera stattfinden könnte. Die Frage wird gestellt, was moralisch wichtiger ist: Das Empfinden der Angehörigen der Geiseln, die möglicherweise gerade vor dem TV sitzen, oder die Verpflichtung, die Geschichte zu bringen. Da ist einerseits eine grosse Ernsthaftigkeit in den Fragestellungen und der Berichterstattung selbst, andererseits das grosse Erstaunen darüber, dass so ein Anschlag überhaupt möglich ist. Natürlich gab es damals schon Terroranschläge, aber die Leute wollten das alle nicht glauben. Heute haben wir uns längst daran gewöhnt.
Amerikanische Medienschaffende unterscheiden sich im Film grundsätzlich von ihren europäischen Pendants. Amerikanische Journalistinnen und Journalisten sind heldenhaft, entlarven Bösewichte, machen Scoops, bringen wichtige Informationen zu den Menschen. Europäische sind fiese, hinterhältige Boulevard-Gurgeln. Woran liegt die amerikanische Verklärung?
Es gibt diese lange amerikanische Tradition der Medienfilme, die praktisch mit dem Tonfilm beginnt. Medienfilme lassen sich mit Westernfilmen vergleichen: Ein Held und seine Gehilfin oder sein Gehilfe müssen sich gegen Widrigkeiten und Ungerechtigkeiten durchsetzen. Was den Westernhelden in der Prärie begegnet, sind im Medienfilm die Bösewichte, die es zu entlarven gibt, Informationen, die man gewinnen muss, oder widerspenstige Redakteure, die es zu bezwingen gilt. Aber die Helden setzen sich durch und sie haben immer Recht, denn die Geschichte, die sie recherchiert haben, muss unbedingt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – auch wenn’s Boulevard ist. Es geht ja nicht immer nur um die grossen politischen Scoops, sondern auch um entlaufene Sträflinge oder ein verunfalltes Kind. Im Hintergrund schwingt natürlich immer mit, dass dadurch die Auflage gesteigert werden kann, trotzdem wird es als heroisch verstanden und die Medienschaffenden nehmen ihren Beruf sehr, sehr ernst. Und wenn es um die politischen Scoops geht – Watergate, die Pentagon Papers –, potenziert sich der Heroismus unweigerlich.
Gibt es eigentlich etwas, was Sie an «December 5» stört?
Er ist dramaturgisch brillant, spannend, ein kleines Juwel. Für einen Medienfilm, aber auch für ein historisches Drama. Der Regisseur kriegt diese Zeitkapsel hin, genau so war das, die Figuren sehen richtig aus und reden richtig, die Farben stimmen. Mir fällt wirklich nichts ein, was mir nicht gefallen hat, was für mich ungewöhnlich ist.
«September 5» läuft noch immer im Kino. Die Oscar-Verleihung findet in der Nacht vom 2. auf den 3. März statt.