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Syrien

«Die Situation erinnert an ein Kriegsgebiet» – die Lage in Syrien

Nordsyrien in Trümmern

Einige Stadtteile in Syrien lagen bereits vor dem Erdbeben in Trümmern. Nun ist vielen Menschen erneut das Dach über dem Kopf genommen worden – nicht durch Luftangriffe, sondern durch die Verschiebung von Erdplatten.
07.02.2023, 20:0308.02.2023, 17:54
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Unzählige Gebäude, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Kinder, die aus Trümmern gerettet werden. Spürhunde, die versuchen, Menschen unter den Ruinen zu erschnüffeln. Die Bilder des Erdbebens an der türkisch-syrischen Grenze zeigen nur einen Ausschnitt des Ausmasses der Verwüstung.

Rund 23 Millionen Menschen sind der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge in der Türkei und in Syrien von den Erdbeben betroffen. Die Zahl der Todesopfer ist inzwischen auf mehr als 7000 gestiegen, über 30'000 Menschen sind verletzt.

Das Epizentrum des Erdbebens befand sich laut der US-Erdbebenwarte in der Westtürkei, in der Nähe der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Gaziantep. Die Erschütterungen waren in der gesamten Zentraltürkei, in Nordsyrien sowie in Zypern, Libanon, Griechenland und Israel zu spüren.

«Krise innerhalb einer Krise innerhalb einer Krise.»
Mark Kaye, Nah-Ost-Direktor des International Rescue Committee (IRC)

Besonders prekär ist die humanitäre Lage in den ohnehin schon vom Bürgerkrieg geplagten Städten Aleppo und Idlib. Bereits vor dem Erdbeben sind im Norden Syriens infolge des Kriegs ganze Provinzen dem Erdboden gleichgemacht und die Infrastruktur stark beschädigt worden.

Earthquake victims receive treatment at the al-Rahma Hospital in the town of Darkush, Idlib province, northern Syria, Monday, Feb. 6, 2023. A powerful earthquake has caused significant damage in south ...
6. Februar 2023: Erdbebenopfer werden in einem Krankenhaus in Idlib, Nordsyrien, behandelt.Bild: keystone

Für den Wiederaufbau fehlte das Geld. Viele Menschen lebten in fragilen und einsturzgefährdeten Gebäuden oder in Flüchtlingscamps. Nun sind auch viele dieser Unterkünfte zerstört worden. Den Menschen wurde erneut der Boden unter den Füssen weggezogen. Mark Kaye, Nah-Ost-Direktor des International Rescue Committee (IRC), bezeichnet die Lage in Nordsyrien als «eine Krise innerhalb einer Krise innerhalb einer Krise».

Die Lage eines Landes, das bereits unter den Folgen des Bürgerkriegs leidet:

Überfüllte Spitäler

Krankenhäuser und Kliniken werden mit Verletzten überflutet, die Flure seien überfüllt, es fehle an Personal und Ausrüstung, berichtet die südafrikanische Nichtregierungsorganisation Gift of the Givers, die Erdbebenhilfe in Syrien leistet.

«Alle unsere Betten sind voll – die Leute müssen auf dem Boden liegen. Bald wird es auch am Boden keinen freien Platz mehr geben.»
Dr. Imtiaz Sooliman von Gift of the Givers

Der britische Arzt Shajul Islam, der seit sieben Jahren in einem Krankenhaus in der Stadt Idlib arbeitet, spricht von den «schlimmsten Tagen» seiner Laufbahn. Gegenüber der Nachrichtenagentur AP sagt er: «Ich entferne einen Patienten vom Beatmungsgerät und setze das Gerät sofort beim nächsten Patienten ein. Dazwischen muss ich entscheiden, welcher Patient die grössere Überlebenschance hat.»

People carry a man injured in an earthquake into the al-Rahma Hospital in the town of Darkush, Idlib province, northern Syria, Monday, Feb. 6, 2023. A powerful earthquake has caused significant damage ...
Menschen tragen einen bei einem Erdbeben verletzten Mann in ein Krankenhaus in Idlib, Nordsyrien.Bild: keystone

Gerade weil viele Krankenhäuser in der Gegend aufgrund des Krieges nicht betriebsfähig seien, kämpfe man nun mit einer enormen Überlastung des Gesundheitswesens.

«Die Krankenhäuser haben zu wenig Ressourcen, um eine solche Katastrophe zu bewältigen.»
Dr. Osama Salloum

Doch auch aufgrund fehlender Ressourcen komme es in den Spitälern zu einer länger werdenden Warteschlange. «Die meisten Menschen, die aus den Trümmern gerettet wurden, haben schwere Verletzungen, die eine spezielle Behandlung und fortschrittliche Ausrüstung erfordern», sagt der syrische Arzt Osama Salloum gegenüber BBC. Das Problem: In dem Krankenhaus in Aleppo, in dem er arbeitet, gebe es nur einen alten Computertomografen.

Unerreichbare Gegenden

Die Rettungsteams seien an ihre Grenzen gestossen, aufgrund des Personalmangels habe man viele Gegenden noch nicht erreichen können, wie Salloum berichtet. Das Ausmass der Katastrophe könne man deshalb noch nicht abschätzen.

Civil defense workers and residents search through the rubble of collapsed buildings in the town of Harem near the Turkish border, Idlib province, Syria, Monday, Feb. 6, 2023. A powerful earthquake ha ...
Die Trümmer eines Gebäudes in der Stadt Harem nahe der türkischen Grenze in der syrischen Provinz Idlib. Bild: keystone

Geschlossene Grenzen

Erschwert wird die Katastrophenhilfe auch aufgrund der geschlossenen Grenzen. Patientinnen und Patienten können nicht in die Türkei überwiesen werden. Zudem ist die Einreise in den Nordwesten Syriens, die von den Rebellen gehaltene Enklave des Landes, erschwert.

Die Regierung in Damaskus lässt die Einfuhr von Hilfsgütern nur über einen kleinen Grenzübergang an der türkischen Grenze zu. Die UNO arbeitet derzeit an einer Lösung.

Russian soldiers and Syrian security forces inspect the wreckage of collapsed buildings, in Aleppo, Syria, Tuesday, Feb. 7, 2023. Rescuers raced Tuesday to find survivors in the rubble of thousands of ...
Russische Soldaten und syrische Sicherheitskräfte inspizieren die Trümmer eingestürzter Gebäude in Aleppo.Bild: keystone

Zerstörte Flüchtlingscamps

In Nordsyrien befinden sich viele Flüchtlingsunterkünfte von rund 6,8 Millionen Binnenvertriebenen. In den Lagern leben auch rund 62'000 palästinensische Flüchtende. Bis jetzt. Denn: Viele dieser Lager sind durch die Erdbeben zerstört worden.

Die Menschen der beschädigten Unterkünfte sind der Nachrichtenagentur Reuters zufolge Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt sowie starken Regenfällen ausgesetzt. Viele haben Schutz in Bussen gesucht, um sich aufzuwärmen und weil sie sich vor weiteren Erdbeben fürchten.

People react as they sit on the wreckage of collapsed buildings, in Aleppo, Syria, Tuesday, Feb. 7, 2023. Rescuers raced Tuesday to find survivors in the rubble of thousands of buildings brought down  ...
Menschen sitzen verzweifelt auf den Trümmern eingestürzter Gebäude in Aleppo.Bild: keystone

Erinnerung an den Krieg

Die aktuelle Situation reisst alte Wunden auf. Den syrischen Arzt Salloum erinnert die aktuelle Lage stark an die Bombenanschläge in Aleppo, als zahlreiche Häuser zerstört wurden und Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben kamen.

«Die Situation erinnert an ein Kriegsgebiet – es weckt bei vielen Menschen traumatische Erinnerungen.»
Dr. Osama Salloum

Unter den Trümmern liegt wohl auch die Hoffnung auf eine nachhaltige Stabilisierung des Landes begraben.

Dies bestätigt die Prognose von Carsten Hansen, Regionaldirektor für den Nahen Osten beim Norwegischen Flüchtlingsrat (NRC): Die Katastrophe werde das Leid der Syrer verschlimmern, die bereits mit einer schweren humanitären Krise zu kämpfen haben.

Millionen von Menschen seien bereits aus ihrer Heimat in eine andere Region vertrieben worden – jetzt würden durch die Katastrophe noch viel mehr vertrieben werden.

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Die Schäden der schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien
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Die Schäden der schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien
In der türkischen Provinz Idlib wurden zahlreiche Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Zivilschutzangehörige durchsuchen die Trümmer nach Überlebenden.
quelle: keystone / ghaith alsayed
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Videos zeigen einstürzende Gebäude in der Türkei und Syrien
Video: watson
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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Coffeetime ☕
07.02.2023 19:28registriert Dezember 2018
Einfach nur tragisch. Mir fehlen die Worte.

Unbeschreiblich, wenn einem noch das wenige einer kleinen Hoffnung auf Besserung weggenommen wird.
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Liebu
07.02.2023 21:48registriert Oktober 2020
Mark Kaye, Nah-Ost-Direktor des International Rescue Committee (IRC), bezeichnet die Lage in Nordsyrien «eine Krise innerhalb einer Krise innerhalb einer Krise».
Man stelle sich dies einmal vor. Eine Krise ist schon schlimm, aber hoch drei, eigentlich für uns gar nicht vorstellbar.
Für die Betroffenen wird schon schlimmes noch schlimmer.
Ich hoffe, auch sie erfahren Hilfe und gehen nicht vergessen.
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flausch
07.02.2023 19:57registriert Februar 2017
Syrien ist ein Kriegsgebiet. Die Türkei greift z.B. regelmässig die Kurdisch bewohnten Gebiete Syriens an.
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