«Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.» Das sagte der ukrainische Präsident Selenski am 25. Februar, nachdem ihm westliche Staaten angeboten hatten, ihn und seine Familie aufzunehmen. Nach mehr als neun Monaten Krieg trifft diese Aussage immer noch zu: In der Ukraine wird ein konventioneller Konflikt in einer Grössenordnung ausgetragen, die es in Europa seit 1945 nicht mehr gegeben hat.
Und anders als in den vielen nicht-konventionellen Konflikten, in die westliche Staaten zum Beispiel in Afghanistan oder Syrien verwickelt waren, benötigt die Ukraine Unmengen von Munition. Nach Schätzung der amerikanischen Denkfabrik Center for Strategic and International Studies haben die USA der Ukraine inzwischen mehr als 1.5 Millionen Artilleriegranaten des Nato-Kalibers 155 Millimeter geliefert.
Jedoch hatte nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Ausrichtung auf den «Krieg gegen den Terrorismus» die Produktion schwerer Artilleriegranaten nicht mehr erste Priorität.
Obwohl Moskau über die angeblich zweitstärkste Luftwaffe der Welt verfügt, fliegen russische Kampfpiloten verhältnismässig wenig Einsätze. Das hat wohl nicht nur mit dem schlechten Zustand vieler Flugzeuge und dem Mangel an Ersatzteilen zu tun, sondern auch mit der starken Flugabwehr der Ukrainer.
Deren Lenkwaffen aus der Sowjetzeit wurden in den letzten Monaten kontinuierlich durch moderne westliche Systeme, aber auch zum Beispiel mit dem bei der Bundeswehr längst ausgemusterten Flugabwehrpanzer Gepard ergänzt. Insbesondere die von Deutschland und Norwegen hergestellten Systeme gelten bei den Ukrainern als wahre Wunderwaffen.
Russland kann seine Luftwaffe deshalb nur selten einsetzen, um seine Bodentruppen direkt zu unterstützen. Das ist der Grund, warum der Kreml teure Marschflugkörper und ballistische Raketen, ergänzt durch relativ billige iranische Einwegdrohnen, verwendet. In den Frontgebieten gibt dagegen die Artillerie – Kanonen, Haubitzen und Mehrfachraketenwerfer – den Ton an. Der Stellungskrieg im Donbass ist hauptsächlich ein Artilleriekrieg.
Im Unterschied zu den beiden Weltkriegen des letzten Jahrhunderts hat aber die Luftaufklärung mittels Drohnen den Artillerieeinsatz revolutioniert. Besonders die Ukrainer, aber auch die Söldner der russischen Gruppe Wagner, setzen massenweise elektrisch betriebene Quadkopter aus ziviler Fertigung ein. Damit beobachten sie gegnerische Stellungen und Truppenbewegungen und korrigieren das Feuer ihrer Geschütze.
Die Kombination dieser kleinen Drohnen mit alten Artilleriewaffen hat die Präzision des Beschusses deutlich verbessert. Das bedeutet auch, dass man dem Gegner mit weniger Munition mehr Verluste zufügen kann.
Es gibt sehr unterschiedliche Schätzungen, wie viele Artilleriegranaten insgesamt in der Ukraine auf beiden Seiten täglich verschossen werden. Ein Wert zwischen 10'000 und 20'000 könnte realistisch sein, selbst wenn manche westliche Fachleute den russischen Munitionsverbrauch für deutlich höher halten. Zum Vergleich: Die USA können laut einem Bericht der «New York Times» nur 15'000 Granaten pro Monat herstellen.
Der gewaltige Munitionsverbrauch stellt beide Seiten vor grosse logistische Probleme. Der estnische Militärgeheimdienstchef Oberst Margo Grosberg sagte jüngst an einer Medienkonferenz, dass Russland in der Ukraine bereits zwei Drittel seines gesamten Munitionsbestands verschossen hätte.
Daher stellt sich die Frage, woher all die Granaten kommen sollen. Die Ukrainer, die vor dem Krieg über eine erhebliche Rüstungsindustrie verfügten, können wegen russischer Angriffe mit Marschflugkörpern und Drohnen kaum genügend Nachschub produzieren.
Die ukrainische Artillerie verwendete zu Beginn des Kriegs fast ausschliesslich Kaliber des ehemaligen Warschauer Pakts, also 122, 152 und 203 Millimeter bei der Kanonenartillerie und verschiedene Raketenwerfer. Bereits im Frühling wurde klar, dass der Nachschub für die Systeme aus der Sowjetzeit nicht mehr gewährleistet war.
Also machten sich westliche Geheimdienste, Diplomaten und Waffenhändler weltweit auf die Suche nach Artilleriegranaten und Raketen für alte sowjetische Systeme. Selbst Munitionslager in Subsahara-Afrika wurden dabei abgeklopft.
Nach unbestätigten Berichten beschafften die Briten bei einer pakistanischen Munitionsfabrik 122-Millimeter-Granaten für ukrainische Geschütze. In einem ukrainischen Video ist beispielsweise zu sehen, wie eine pakistanische Granate ausgepackt wird. Wie genau das Stück in die Ukraine gelangt ist, bleibt unklar. Aber es gibt Vermutungen, dass pakistanische Munition auf dem Luftweg via Zypern und Rumänien ins Kriegsgebiet gelangt sein könnte.
Russland sucht dem Vernehmen nach ebenfalls im Ausland nach Munition. Bestens bekannt sind inzwischen die Lieferung von Einwegdrohnen mit Sprengkopf aus dem Iran. Die USA werfen aber auch Nordkorea vor, Russland eine bedeutende Zahl von Artilleriegranaten zu verkaufen.
Um die Situation zu entschärfen, sind die Amerikaner und andere westliche Staaten seit dem Frühling dazu übergegangen, den Ukrainern westliche Geschütze in den Kalibern 155 und 105 Millimeter zu liefern. Aber auch hier sind Engpässe bei der Munitionsversorgung entstanden. So will der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall zum Beispiel den spanischen Munitionshersteller Expal Systems für umgerechnet fast 1.2 Milliarden Franken kaufen.
Dieser produziert eine breite Palette von Artilleriegranaten in Nato-Kalibern. Laut dem deutschen «Handelsblatt» soll Expal Systems ausserdem in der Lage sein, Munition für die Oerlikon-Kanonen des Gepard-Flugabwehrpanzers herzustellen. Die Schweiz hat Deutschland verboten, die vor Jahren gelieferte Oerlikon-Munition für den Gepard an die Ukraine zu liefern.
Dabei wären diese 35-Millimeter-Granaten das kostengünstigste Mittel, um russische Drohnen und Marschflugkörper vom Himmel zu holen. Damit würde die zivile Infrastruktur der Ukraine besser gegen russische Angriffe geschützt.
Was müsste passieren, damit die Schweiz diese Munition freigibt?