Die russische Armee steht offenbar kurz vor dem Sturm auf Kiew. Nach Angaben der ukrainischen Armee haben die russischen Streitkräfte begonnen, Ressourcen für den Angriff auf die ukrainische Hauptstadt zusammenzuziehen. Das geht aus dem Bericht des Generalstabs hervor, der auf Facebook veröffentlicht wurde.
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Klare Signale, dass die Russen ihren Kampf intensiviert haben, gibt es aus den Städten Butscha und Irpin. Dort versuchen Putins Truppen, die volle Kontrolle über die nur wenige Kilometer von Kiew entfernten Städte zu erlangen.
Aus Irpin erreichen uns keine Bilder von Zivilisten, die sich den Panzern entgegenstellen. Keine Fotos von Frauen, die russischen Soldaten ihre Meinung lauthals ins Gesicht schreien. Aus Irpin erreichen uns Bilder, die zeigen, dass Putins Armee den Kampf massiv verschärft hat und längst keine Rücksicht mehr nimmt auf Zivilisten. Sie zeigen aber vor allem, wie erschütternd Krieg ist.
Irpin liegt rund 27 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Kiew. Die P30 ist die Hauptverkehrsachse nach Kiew. Sie führt über eine Brücke, die den Fluss Irpin überquert. Das heisst: führte.
Das ukrainische Militär hat die Brücke schon am 25. Februar gesprengt. So sollten die russischen Panzer am Vorrücken gehindert werden. Die Explosion zerschmetterte die Brücke, verwüstete mehrere Häuser daneben und liess noch in der orthodoxen Kirche knapp 150 Meter weiter die Scheiben bersten, wie ein Spiegel-Journalist aus Irpin berichtet.
Über den Irpin führen jetzt zwei Holzplanken, knapp oberhalb des kalten Wassers. Das Bild von flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainern, die unter der Brücke darauf warten, über die Holzplanken weiterzukommen, ging am Wochenende um die Welt.
Wer den Irpin überquert hat, flüchtet auf einem improvisierten Weg weiter. Ukrainische Soldaten tragen einen Kinderwagen über das unebene Gelände. Korrespondenten berichten, dass immer wieder Schüsse und Granateneinschläge zu hören sind. Oft gleichzeitig. Rund ein Dutzend ukrainische Soldaten halten sich in unmittelbarer Nähe der Brücke auf, um den Menschen zu helfen.
Auf der Flucht sind viele Mütter mit Kleinkindern und ältere Menschen. Aber auch Menschen mit Behinderungen oder im Rollstuhl wurden gemäss Journalisten vor Ort über die Holzstege getragen.
Ein Mann wird in einer Schubkarre aus dem umkämpften Irpin gebracht und über den Fluss geholfen.
Zudem haben viele Menschen auch ihre Haustiere mitgenommen.
In Irpin lebten bis zum Krieg rund 60'000 Einwohner. Mittlerweile sind die meisten auf der Flucht. Während am Freitag dutzende Menschen in einer halben Stunde den Fluss überquerten und auf der Kiewer Seite des Ufers kontrolliert wurden, waren es am Samstagvormittag bereits Hunderte, die Irpin fluchtartig verliessen.
Bisher dürften mehrere Tausend die Stadt über den Fluss verlassen haben. Auf der Kiewer Seite des Irpin geht es durch Waldgebiete zu Fuss weiter.
Dass die russische Armee keine Rücksicht mehr auf Zivilisten nimmt, zeigt dieser Vorfall vom Samstag.
Die «New York Times» verbreitete ein verstörendes Bild ihrer Fotoreporterin Lynsey Addario. Addario wurde zusammen mit ihren Kollegen Zeugin, wie eine Mörsergranate wenige Meter neben ihr einschlug. Bei dem Angriff wurden vier Menschen getötet, die mit ihren Rollkoffern auf der Flucht waren. Die Toten seien ein Teenager, ein Mädchen im Alter von geschätzt acht Jahren, deren Mutter und ein Freund der Familie.
Addario hielt sich zusammen mit dem Journalist Andriy Dubchak in unmittelbarer Nähe auf. Auf einem Video, das Dubchak aufnahm, sieht man auf der gegenüberliegenden Strassenseite die flüchtende Familie mit ihren Rollkoffern, als plötzlich ein gewaltiger Einschlag zu sehen ist.
«Soldaten eilten zur Hilfe, aber die Frau und die Kinder waren tot», schrieb die Zeitung. «Ihr Gepäck, ein blauer Rollkoffer und einige Rucksäcke, lag verstreut herum, zusammen mit einer grünen Tragetasche für einen kleinen Hund, der bellte.»
Die New York Times entschied sich, ein Foto der getöteten Familie und deren Freund zu veröffentlichen. Auch das Video wurde gezeigt.
Auch im privaten Auto versuchten noch viele, Irpin zu verlassen. In diesem Auto sitzen eine Mutter und ihr Kind. An der Frontscheibe klebt ein Papier, darauf steht: Kinder.
Während die Menschen den Irpin überqueren, gehen hinter ihnen Bomben nieder. Nach einem russischen Luftangriff steigt Rauch über der Stadt auf. Getroffen wurde hier eine Fabrik und ein Geschäft.
Dieses mehrstöckige Wohnhaus geriet ebenfalls unter Beschuss und wurde zerstört.
Am Freitag konnten die Menschen noch mit dem Zug aus Irpin fliehen. Mittlerweile wurde berichtet, dass russische Soldaten die Geleise gesprengt hätten, was die Fluchtbewegungen aus Irpin Richtung Kiew noch einmal verschärft hat.
Nach UN-Angaben wurden in dem Krieg bislang mindestens 364 Zivilisten getötet – darunter 41 Kinder. Laut amerikanischen Angaben sterben pro Tag zudem Hunderte russische Soldaten. US-Zahlen zu ukrainischen Verlusten gab es nicht.
Eine der flüchtenden Frauen unter der Brücke am Irpin sagte dem «Spiegel»-Reporter mit Tränen in den Augen in die Kamera: «Es ist sehr wichtig, dass die Welt erfährt, was hier passiert».
(meg)
Zivilisten werden auf der Flucht getötet, Wohnhäuser werden bombardiert, Soldaten plündern und der Zar kann sein Volk anlügen wie er will.
Das geht so nicht.
natürlich hat mich der Krieg bereits emotional getroffen, aber nach diesem Bild... einfach nur sprachlos und unendlich traurig