«Sagen Sie mir, wie wir nicht in einen Konflikt der Supermächte hineingezogen werden.» Dies soll, laut einem hochrangigen US-Beamten, diejenige Frage sein, die im Weissen Haus derzeit omnipräsent sei, weiss die «New York Times».
Dabei stecken die USA bereits knietief im ukrainischen Kriegs-Schlamm fest – genau wie die russischen Militärfahrzeuge. Denn Waffen werden mithilfe der USA in die Ukraine geschleust oder in russische Kommunikations- und Computernetze wird mithilfe der USA eingegriffen. Trotzdem sehen sich die USA nicht als kriegsbeteiligte Partei. Was die «New York Times» zur US-Beteiligung in der Ukraine schreibt:
In weniger als einer Woche haben die Vereinigten Staaten und die NATO mehr als 17'000 Panzerabwehrwaffen in riesigen Militärfrachtflugzeugen aus Nachbarländer in die Ukraine geflogen, damit sie auf dem Landweg in die ukrainische Hauptstadt Kiew und andere Grosstäte verschoben werden können.
Das Pentagon hat bereits gemeldet, dass die ukrainische Führung mitgeteilt habe, dass amerikanische Waffen auf dem Schlachtfeld etwas bewirkten. So sei zum Beispiel der kilometerlange russische Panzerkonvoi mit amerikanischen Waffen angegriffen worden, wodurch der russische Vormarsch auf Kiew aufgehalten werden konnte. Einige der Fahrzeuge seien sogar aufgegeben worden, so Pentagon-Beamte. «Wir alle waren sehr beeindruckt davon, wie effektiv die ukrainischen Streitkräfte die von uns zur Verfügung gestellte Ausrüstung eingesetzt haben», wird Laura Cooper, die oberste Russland-Beauftragte des Pentagon, in der «New York Times» zitiert.
Bereits im letzten August haben die USA angekündigt, ein Waffenpaket im Wert von 60 Millionen US-Dollar (ca. 55 Millionen CHF) für die Ukraine bereitzustellen, im November 2021 bereits sollen diese Lieferungen laut Angaben des Pentagon abgeschlossen worden sein. Und als der US-Präsident Joe Biden am 26. Februar 2022 weitere 350 Millionen Dollar (ca. 321 Millionen CHF) an Militärhilfe für die Ukraine bewilligt hatte, wurden 70 Prozent davon nur fünf Tage später geliefert. Dazu habe das US-Militär auf vorbereitete Militärvorräte zurückgegriffen, die grösstenteils in US-Stützpunkten in Deutschland gelagert worden seien. Von da seien sie mit Frachtflugzeugen der Air Force zu etwa einem halben Dutzend Flugplätzen in Nachbarländern der Ukraine geflogen worden – vor allem in Polen und Rumänien – und von da per Landweg in die Ukraine. So ein amerikanischer Beamte gegenüber der «New York Times».
Nicht nur die USA, auch die EU hat die ukrainischen Streitkräfte mit der Lieferung von Waffen und Ausrüstung über den gleichen logistischen Weg unterstützt.
Allerdings könnte diese Art der Waffen-Nachschublieferung mittlerweile passé sein: «Das Zeitfenster, um den Ukrainern mit einfachen Mitteln zu helfen, hat sich geschlossen», sagte Generalmajor Michael S. Repass, ein ehemaliger Kommandeur der US-Spezialeinheiten in Europa, der «New York Times». Denn Russland nehme immer mehr Gebiete innerhalb des Landes ein. Waffen an die ukrainischen Truppen zu verteilen, werde daher immer schwieriger.
Bisher haben die russischen Streitkräfte die Waffennachschublinien nicht ins Visier genommen – was allerdings im Verlauf des Krieges wohl nicht so bleiben wird.
Eines der auffälligsten Merkmale des bisherigen Kriegsgeschehens ist, dass die gesamte Bandbreite der alten und modernen Kriegsführung angewandt wird: Die Bilder von ukrainischen Soldaten in Schützengräben erinnern an Szenen aus dem Ersten Weltkrieg. Während gleichzeitig ein Cyber-Krieg um Computernetzwerke und die von ihnen kontrollierten Stromnetze und Kommunikationssysteme voll im Gange ist. Und sie gehören zu den geheimsten Elementen des Konflikts.
Versteckt auf Stützpunkten in Osteuropa sollen US-Cyber-Spezialisten digitale Angriffe auf die Kommunikation Russlands planen – aber ihre Erfolgsquote sei schwer zu messen, sagen Pentagon-Beamte. Ein Cyber-Operationszentrum in Kiew soll in den letzten Tagen ausserhalb des Landes verlegt worden sein. Die westlichen Staaten halten ihre Cyber-Aktionen bedeckt – verständlicherweise. Klar ist jedoch, dass amerikanische Cyber-Krieger versuchen, den russischen Militär-Nachrichtendienst GRU lahmzulegen. Auch Microsoft hat hier mitgeholfen und kleine Programme entwickelt, um detektierte Malware auf Systemen von ukrainischen Regierungs-, Non-Profit- und Informationstechnologie-Organisationen zu zerstören.
Diese Art der Kriegsführung ist Neuland. Die Frage steht im Raum, ob die US-Beteiligten des Cyber-Kriegs als Co-Kombattanten nach Artikel 43/2 des 1. Zusatzprotokolls zur Genfer Konvention von 1949 gelten – also als eine am Konflikt beteiligten Partei. Nach amerikanischer Auslegung der Gesetze können die USA die russischen Systeme vorübergehend unterbrechen, ohne eine Kriegshandlung zu begehen – eine dauerhafte Deaktivierung wäre problematischer. Doch wie Experten einräumen, wissen die russischen Einheiten bei einem Ausfall eines ihrer Systeme nicht, ob es sich nur um eine vorübergehende Störung handelt und ob die USA dafür verantwortlich sind. Die Befürchtung besteht, dass der Kreml den Cyber-Krieg als Vorwand nehmen könnte, um zu belegen, dass er nicht Krieg gegen die Ukraine, sondern die Vereinigten Staaten oder die NATO führe, wie die «New York Times» zusammenfasst.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde von den USA mit einer verschlüsselten Kommunikationsausrüstung ausgestattet, die ihm sichere Gespräche mit dem US-Präsidenten Biden ermöglicht.
Erst letzten Samstagabend nutzte Selenskyj das Gerät für ein 35-minütiges Gespräch mit seinem amerikanischen Amtskollegen. Dabei habe Selenskyj seine bereits geäusserte Kritik wiederholt – nämlich dass die derzeitige Hilfe des Westens für die anstehenden Aufgaben völlig unzureichend sei. Zudem habe er Flugverbotszone über der Ukraine, einen Stopp aller russischen Energieexporte in den Westen sowie eine neue Lieferung von Kampfjets gefordert. Die Forderung nach einer Flugverbotszone wurde von der Nato bereits zurückgewiesen – und der russische Präsident Wladimir Putin hat diesbezüglich gewarnt: «Jede Bewegung in diese Richtung wird von uns als Teilnahme des jeweiligen Landes an einem bewaffneten Konflikt betrachtet.» Die USA werden sich also hüten, dieser Forderung Selenskyjs nachzukommen.
Nach dem Telefonat habe das United States National Security Council (NSC) einen Grossteil des Tages damit verbracht, herauszufinden, ob es zu bewerkstelligen sei, dass Polen der Ukraine eine Flotte MIG-29-Kampfjets aus sowjetischer Produktion übergebe und Polen im Gegenzug weitaus leistungsfähigere F-16-Kampfflugzeuge aus amerikanischer Produktion erhalte. Problematisch aus US-Sicht: Viele der F-16 sind bereits Taiwan versprochen – wo die USA grössere strategische Interessen haben als in der Ukraine.
Trotzdem: Der US-Aussenminister Antony J. Blinken äusserte sich am Sonntag während einer Moldawien-Reise optimistisch: «Ich kann nicht über einen Zeitplan sprechen, aber ich kann Ihnen sagen, dass wir uns sehr, sehr aktiv damit befassen.» Aus Warschau kamen etwas kritische Töne: Die polnische Regierung vermeldete, es gebe keine Abmachung mit den USA oder der Ukraine. Und es bestünde die Sorge, dass Polen das nächste Ziel Russland würde, sollten es seine alten Kampfjets ins kriegsgebeutelte Nachbarland liefern.
Übrigens: Nicht nur eine Verbindung zwischen den US und Selenskyj wurde eingerichtet, sondern auch eine direkte Telefonleitung zwischen dem in Stuttgart angesiedelten Europa-Hauptquartier der US-Streitkräfte und dem russischen Verteidigungsministerium – über 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wurde quasi der Heisse Draht reaktiviert. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass so mögliche Missverständnisse und damit Zusammenstösse von Soldaten beider Länder verhindert werden könnten, so Pentagon-Sprecher John Kirby am Freitag.
Die «New York Times» berichtet, wie US-Lobbygruppen und -Anwaltskanzleien kostenlos für Selenskyj arbeiteten. So hätte die Anwaltskanzlei «Covington & Burling» einen Antrag im Namen der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht – pro bono versteht sich.
Abschliessend muss festgehalten werden: Eine juristisch verbindliche Definition, die regelt, wie weit die USA gehen können, um der Ukraine zu helfen, ohne in einen direkten Konflikt mit dem atomar bewaffneten Russland zu geraten, existiert nicht. Und: Die amerikanischen Definitionen sind nicht gleich den russischen Definitionen. Vor dieser Dissonanz warnte ein hochrangiger amerikanischer Sicherheitsbeamter am Wochenende.
(yam)
Darf ich bei euch Franken in Dollar tauschen?