Ein ukrainische Mig-29 donnert im Tiefflug über ein Dorf in der Südukraine. Kühe rennen verschreckt zwischen den Häusern umher, Hunde bellen. Plötzlich schiesst der Kampfjet eine Rakete ab. Neben dem Lärm der Düsen ist nun auch das Fauchen der Lenkwaffe zu hören. Sie zieht einen langen Schweif weissen Rauchs hinter sich her. Kurz nach dem Abschuss steigt die Rakete steil in den Himmel und fliegt so hoch hinauf, dass ihr Feuerstrahl nicht mehr zu sehen ist.
Der ukrainische Pilot zieht seine Maschine nun in eine enge Linkskurve, er will der russischen Radarüberwachung entgehen und macht sich schleunigst auf den Rückflug. Dazu schaltet er die Nachbrenner ein. Unter den Flügeln sind von blossem Auge zwei Luft-Luft-Lenkwaffen und eine amerikanische Harm-Rakete zu sehen, eine Anti-Radar-Lenkwaffe.
Die andere Harm (High Speed Anti-Radiation Missile) ist bereits auf dem Weg zu ihrem Ziel, das von unserem Dorf aus unsichtbar hinter dem Horizont liegt. Vermutlich handelt es sich um eine russische Radaranlage zur Flugabwehr. Die Reichweite einer Harm liegt bei schätzungsweise 150 Kilometern.
Die Mig-29 ist ein Flugzeug aus der Sowjetzeit und damit nicht für den Einsatz von Nato-Waffen ausgelegt. Ukrainische Techniker haben es dennoch geschafft, das Mehrzweckflugzeug so anzupassen, dass je eine Harm-Lenkwaffe pro Flügel angebracht und von dort abgefeuert werden kann.
Mit den Lenkwaffen schiesst die ukrainische Luftwaffe Löcher in den russischen Flugabwehrschirm. Zumindest zeitlich begrenzt können daraufhin ukrainische Erdkampfflugzeuge in die russisch kontrollierte Zone eindringen und Stellungen bombardieren.
Für die russischen Soldaten in der Tasche von Cherson, der russisch besetzten Zone am Westufer des Dnjepr, muss das demoralisierend sein. Denn die Russen erleben damit am eigenen Leib, dass sie nicht nur Tag und Nacht unter ukrainischem Artilleriefeuer leiden, sondern dass sie auch von ihrer Flugabwehr und der «zweitstärksten Luftwaffe» der Welt im Stich gelassen werden.
Wie viele einsatzbereite Kampfjets und Helikopter die Ukrainer besitzen, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Jedenfalls haben die russischen Angriffe mit Marschflugkörpern zu Beginn der Invasion zwar einige Schäden angerichtet, die ukrainische Luftwaffe aber keineswegs am Boden vernichtet, wie uns das die russische Propaganda weismachen wollte.
Wie die russischen Landstreitkräfte hat sich auch die Luftwaffe des Kreml als Papiertiger herausgestellt. Zwar können strategische Bomber aus der sicheren Tiefe des russischen Luftraums aus vielen Hunderten Kilometern Marschflugkörper und Hyperschallraketen auf ukrainische Ziele abfeuern; doch davon einmal abgesehen glänzen russische Kampfjets vor allem durch ihre Abwesenheit.
Das liegt mit Sicherheit auch an der ukrainischen Flugabwehr, die immer mehr auch durch westliche Systeme verstärkt werden. Weitreichende Boden-Luft-Lenkwaffen bekämpfen heute vor allem russische Marschflugkörper und iranische Kamikaze-Drohnen.
Dabei scheinen die Russen von den Ukrainern gelernt zu haben, dass im Schwarm eingesetzte Drohnen die gegnerische Flugabwehr häufig überfordern. Einige Flugobjekte werden zwar jeweils abgeschossen, aber andere fliegen durch den Abwehrschirm hindurch und erreichen ihr Ziel.
Kurzstrecken-Systeme wie die amerikanische Stinger sind dafür verantwortlich, dass russische Kampfhelikopter fast nur noch in extremem Tiefflug angreifen und ungelenkte Raketen im Bogenschuss auf weit entfernte ukrainische Ziele abfeuern. Damit versuchen sie, ihre Waffen ausserhalb der Reichweite gegnerischer Flugabwehrsysteme zum Einsatz zu bringen.
Diese sonderbare Methode haben ukrainische Helikopterpiloten inzwischen kopiert. Anders als in den Kriegen der USA und westlicher Staaten, zum Beispiel im Irak oder in Libyen, haben die Luftwaffen beider Seiten in der Ukraine bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt. (aargauerzeitung.ch)