Insider zeigt, wie Russland Kriegskarten manipuliert
Die Angaben zu Geländegewinnen im Ukraine-Krieg gehen oftmals deutlich auseinander: Während Russland Erfolge auf dem Schlachtfeld meldet, bestreitet die Ukraine etwaige Vorstösse von Putins Armee. Der Bericht eines ehemaligen russischen Militärkartografen offenbart nun, wie es wohl dazu kommt.
Das russische Exilmedium «Meduza» hat die Erfahrungen des inzwischen geflohenen Mannes veröffentlicht, der in einem russischen Kommandoposten für die Bearbeitung von internem Kartenmaterial des Militärs zuständig war. Jetzt erzählt er unter dem Pseudonym Vyacheslav Boyarintsev, wie ihm befohlen wurde, jene Karten zu manipulieren.
Eigenen Angaben zufolge diente Boyarintsev bis vor wenigen Monaten in der ukrainischen Kleinstadt Awdijiwka. Seine konkrete Aufgabe bestand darin, die physischen sowie elektronischen Karten des ihm vorgesetzten Generals zu aktualisieren. Jeden Abend habe er die Veränderungen auf dem Schlachtfeld eingezeichnet.
Als Grundlage dienten ihm Berichte aus dem Kommandoposten, die anhand von Baumreihen dokumentierten, wie weit die eigenen Truppen vorgerückt waren. «Auf den Karten sind die Baumgrenzen in Quadrate unterteilt. Ich schattierte den Vormarsch ein – beispielsweise von Quadrat 16 bis Quadrat 18», zitiert «Meduza» den Deserteur. Während er selbst die Positionen der motorisierten Gewehr- und Panzerregimenter einzeichnete, fügten andere weitere Daten hinzu – unter anderem zu Angriffen mit Gleitbomben, Drohnen und Artillerie auf ukrainische Truppen.
«Jeder wusste, dass das absurd war»
Grosse Karten seien zweimal wöchentlich gedruckt worden, hinzu kamen täglich gedruckte kleinere Regimentskarten, die Angriffspläne der einzelnen Einheiten für den kommenden Tag abbildeten. «Die Karten zeigten, wie sich die Regimenter und ihre Untereinheiten bewegen würden, einschliesslich ihrer Routen und Personalstärke», so Boyarintsev.
Boyarintsev zufolge erteilte das Kommando während einer Offensive völlig unrealistische Befehle. «Sie planten, dass die Soldaten in fünf Tagen 18 Kilometer vorrücken sollten, obwohl jeder wusste, dass das absurd war.» Es sei gängige Praxis gewesen, Karten «auf Kredit» zu schattieren. So wurden geplante Vorstösse eingezeichnet, die letztlich als erreichte Erfolge interpretiert wurden.
«Die Regimenter melden, dass sie Orte wie Rusyn Yar oder Poltavka vollständig eingenommen haben. Ich schattiere diese Gebiete natürlich. Dann öffne ich am Abend das neueste Video von Michael Naki, schaue mir die DeepState-Karte an und sehe, dass ganz Rusyn Yar immer noch eine Grauzone ist.»
Naki ist ein im Exil lebender russischer Journalist, der wegen seiner kritischen Kriegsberichterstattung von russischen Behörden verfolgt wird. Bei der genannten DeepState-Karte handelt es sich um eine interaktive Online-Karte der Nichtregierungsorganisation Deep State UA, die zu Kriegsbeginn von zwei Ukrainern ins Leben gerufen wurde. Seither dokumentiert die Karte den Verlauf des russischen Angriffskriegs in Echtzeit.
«Die Daten, die wir senden, sind völliger Blödsinn»
Boyarintsev habe auch Stabschefs auf seine Beobachtung angesprochen. Diese hätten ihm gesagt: «Das ist Blödsinn. Die Daten, die wir senden, sind völliger Blödsinn. Wir können unmöglich dort sein.» Unternommen haben sie gegen die Falschangaben aber offenbar nichts.
Der Kartograf veranschaulicht anhand von einem ein Kilometer langen Waldstreifen, was seinen Vorgesetzten bereits genügte, um Geländeabschnitte als erobert zu erklären: «Wenn zwei russische Soldaten an einem Ende sitzen und zwei weitere am anderen, wird dieser Streifen auf der Karte automatisch als vollständig erobert markiert – als ob das gesamte Gebiet unter russischer Kontrolle stünde.»
Er erklärt weiter: «Zwei Personen sitzen irgendwo und plötzlich werden 300 bis 400 Meter als gesichert markiert, obwohl es dort überhaupt keine echte befestigte Präsenz gibt. Also lügen sie zuerst, dass das Gebiet kontrolliert wird, und schicken dann Einheiten dorthin. Letztendlich täuschen sie sich selbst.»
Als konkretes Beispiel nennt Boyarintsev ein Gebiet in der Nähe von Toretsk, das im September als vollständig kontrolliert gekennzeichnet war. «Als Marines und Spezialeinheiten einrückten, stellte sich heraus, dass ukrainische Streitkräfte noch immer dort waren.» Letztere hätten dann «alle Russen vernichtet».
Schliesslich gelang ihm die Flucht
Boyarintsev hatte noch während seines Einsatzes in Awdijiwka beschlossen, zu desertieren. «Sie schickten mich in Urlaub, und ich kehrte nie zurück. Ich ging nach Hause, ruhte mich aus, erholte mich und begann, meine Flucht aus Russland zu planen.»
Seine Verwandten hätten nichts davon gewusst. «Meine Eltern erfuhren erst, dass ich weg war, als die Einheit anfing, sie anzurufen.» Heute könne er noch immer nicht glauben, dass er tatsächlich entkommen ist.
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