«Die vielen Krisen haben uns ärmer gemacht» – darum kannst du dir weniger leisten
Frau Lein, die repräsentative Umfrage von watson und Demoscope zeigt: Über die Hälfte der Schweizer Bevölkerung sagt, dass ihre Kaufkraft in den vergangenen fünf Jahren abgenommen hat, für 31 Prozent ist sie sogar stark zurückgegangen. Überrascht Sie das?
Sarah Lein: Nein. Wir hatten in den vergangenen fünf Jahren eine klar messbare Inflation. Die Konsumentenpreise sind seit Oktober 2020 etwa um sieben Prozent angestiegen, die Krankenkassenprämien im selben Zeitraum sogar um 20 Prozent. Zwar haben auch die Löhne leicht zugenommen, um circa fünf Prozent, aber weniger stark als die Teuerung.
Welche Entwicklungen haben sonst noch dazu beigetragen, dass die Kaufkraft abgenommen hat?
In den vergangenen Jahren haben wir viele Krisen gesehen: die Coronapandemie, den Ukrainekrieg und die darauffolgende Energiekrise. Auch unsere Nachbarländer kommen im Moment wirtschaftlich nicht vom Fleck. Dazu kommen Trumps Zölle. Das ist kein gutes Umfeld für die Schweizer Wirtschaft, auch wenn es ihr verglichen mit anderen Ländern besser geht. Das alles hat uns ärmer gemacht und unsere Kaufkraft geschmälert.
Ältere Menschen gaben in der Umfrage häufiger als jüngere an, dass ihre Kaufkraft gesunken ist. Woran könnte das liegen?
Ältere Menschen haben durch ihre Rente ein relativ fixes Einkommen. Diese konnten mit der Inflation wohl weniger mithalten. Jüngere Menschen haben oft ein stärkeres Lohnwachstum, das die Teuerung etwas kompensiert. Ältere haben zudem oft generell höhere Ausgaben für ihre Gesundheit.
Über die Hälfte der Befragten hat angegeben, wegen der Teuerung weniger oder überhaupt nicht mehr in Restaurants und Bars zu gehen, viele sparen auch bei den Ferien, bei der Kleidung oder können weniger zur Seite legen. Sind das typische Verhaltensänderungen?
Ja, die Menschen sparen zuerst bei Ausgaben, die nicht unbedingt notwendig sind, das ist wissenschaftlich gut belegt. Das heisst: Grundbedürfnisse wie die Wohnung, Lebensmittel, Versicherungen und Krankenkasse werden priorisiert. Ausgaben für die Freizeit – zum Beispiel Restaurantbesuche oder Ferien – stellen die Menschen hingegen erst einmal hinten an, wenn die wirtschaftliche Lage angespannt ist.
60 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie im vergangenen Jahr auf ihr Erspartes zurückgreifen mussten, um die Teuerung zu verkraften. Sollte dieses Ergebnis alarmieren?
Nicht unbedingt, auch in normalen Zeiten wird «entspart». Typischerweise greifen vor allem ältere Personen auf ihr Erspartes zurück, wenn sie pensioniert sind – nicht nur in Krisenzeiten, sondern immer. Alarmiert wäre ich erst, wenn zunehmend jüngere Personen sagen, dass sie auf ihr Erspartes zurückgreifen müssen.
Genau das zeigt unsere Umfrage. Die 15- bis 35-Jährigen gaben fast ebenso häufig wie die über 55-Jährigen an, auf Erspartes zurückzugreifen.
Diese Zahl erscheint mir im Vergleich zu anderen Daten sehr hoch, da wäre ich mit der Interpretation vorsichtig. Ein Zeitverlauf wäre wichtig, um einordnen zu können, ob sich diese Anteile verändert haben.
In unserer Umfrage hat sich gezeigt, dass viele auf politische Lösungen hoffen: Prämien senken, Steuern reduzieren, Löhne erhöhen. Welche politischen Massnahmen erachten Sie als sinnvoll, um die Kaufkraft zu stärken?
Ich denke, dass wir vor allem die Krankenkassenprämien in den Griff bekommen müssen. Wir werden immer älter und konsumieren immer mehr Gesundheitsleistungen. Das heisst, die Krankenkassenprämien werden kontinuierlich steigen, wenn wir das System nicht anpassen. Hier braucht es politische Massnahmen, die aber nicht nur die Kosten umverteilen, sondern sie nachhaltig reduzieren. Bei Löhnen oder Mieten wäre es ökonomisch nicht sinnvoll, politisch einzugreifen. Man sollte aber auch transparent sein: Die Politik kann die Teuerung nicht komplett verhindern.
Sie meinen, die Teuerung ist unausweichlich?
Nun, die Zentralbank kann den Preisanstieg zwar mittelfristig beeinflussen und abfedern. So hat es die SNB geschafft, dass die Inflation nicht so stark angestiegen ist wie in anderen Ländern. Aber Schocks wie die Pandemie oder den Ukrainekrieg kann die Zentralbank nicht verhindern und damit auch nicht, dass die Inflation kurzfristig ansteigt.
53 Prozent der Befragten glauben, dass die Preise in den kommenden Jahren weiter ansteigen werden. Welche Entwicklungen erwarten Sie bei der Kaufkraft in nächster Zukunft?
Hier bin ich optimistischer als die Befragten. Ich gehe davon aus, dass wir im kommenden Jahr im Schnitt eine tiefe Inflation haben werden. Im Moment liegt sie bei etwa null Prozent. Das ist gut. Ausserdem rechnen Ökonominnen und Ökonomen damit, dass die Löhne im nächsten Jahr um zwei Prozent ansteigen. Bei etwa null Prozent prognostizierter Inflation bedeutet das Reallohngewinne. Die steigenden Krankenkassenprämien sind hier aber nicht mit eingerechnet. Und dort werden wir ziemlich sicher weitere Anstiege sehen.
Heisst das, den Haushalten bleibt von den Reallohngewinnen am Ende eigentlich nichts?
Es bleibt im Schnitt voraussichtlich etwas übrig. Der Kaufkraftgewinn fällt aber etwas weniger stark aus, weil ein Teil des Reallohngewinns dann für höhere Prämien ausgegeben werden muss.
Welche Auswirkungen haben solch pessimistische Erwartungen vonseiten der Bevölkerung, wie sie in der Umfrage deutlich werden, auf die Wirtschaft?
Wenn die Konsumentinnen und Konsumenten das Gefühl haben, sie müssten sparen und vorsichtig sein, führt das dazu, dass die Menschen weniger konsumieren. Das hat negative Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft. Unsicherheit funktioniert wie ein Dämpfer. Und ich glaube nicht, dass wir sie so schnell wieder loswerden.
