Mitte, FDP und SVP wollen Schweizer Rüstungsindustrie retten – darunter leidet die Ukraine
25 Staaten sollen künftig fast unbeschränkten Zugang haben zu Waffen, die in der Schweiz produziert worden sind. Das hat die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats letzte Woche beschlossen. Es geht um die Länderliste des «Anhang 2» der Kriegsmaterialverordnung. Sie umfasst 17 von 27 EU-Staaten, alle angelsächsischen Staaten – und Japan und Argentinien. Es sind Staaten, die über ein ähnliches Waffenexportregime wie die Schweiz verfügen.
Winkt das Parlament die erleichterte Waffenausfuhr durch – darauf deutet vieles hin -, wird Folgendes möglich: Erstens darf die Schweiz Waffen in all diese Staaten exportieren, selbst dann, wenn sie sich im Krieg befinden. Das ist momentan nicht möglich. Für Nato-Staaten ist dieser Schritt zentral: Sie müssen sich gegenseitig unterstützen, falls ein Mitglied angegriffen wird. Dadurch wären im Fall eines Angriffs auf einen Nato-Staat sofort alle Staaten im Krieg – und könnten so keine Waffen mehr aus der Schweiz beziehen. Der Bundesrat kann aber Ausnahmen verfügen.
Zweitens dürfen die 25 Staaten Waffen, die sie in der Schweiz erworben haben, in andere Länder exportieren. Bisher brauchte es für eine solche Wiederausfuhr eine Bewilligung. Sie wird hinfällig. Eine Ausnahme gibt es auch hier: Der Bundesrat hat ein Veto-Recht und kann Nichtwiederausfuhr-Erklärungen verlangen, wenn er befürchtet, Waffen könnten in heikle Staaten gelangen.
Priska Seiler Graf, Präsidentin der Kommission und SP-Nationalrätin, spricht von einem «vollständigen Paradigmawechsel». Die Erklärung zur Nichtwiederausfuhr werde damit «grundsätzlich abgeschafft». Zudem erhalte der Bundesrat eine «völlig neue Rolle», wie sie sagt: «Bisher konnte er positive Ausfuhr-Bewilligungen erteilen. Neu muss er Ausfuhren verbieten, wenn sie neutralitätspolitisch heikel sind.»
Die SVP sorgte für eine neue Lex Ukraine
Eines dürfen die 25 Staaten aber auch in Zukunft nicht: Die Ukraine mit Waffen beliefern, die sie in der Schweiz gekauft haben. Das überrascht. Denn seit Kriegsbeginn haben alle Parteien mit Ausnahme der SVP in verschiedensten Anläufen versucht, Wiederausfuhren in das Land zu ermöglichen, das von Russland völkerrechtswidrig angegriffen wurde.
Im Sommer 2023 kamen SP, Mitte und FDP einem grossen Kompromiss – einer Lex Ukraine – greifbar nahe. Er basierte auf der Uno-Charta und sah vor, dass Wiederausfuhren in ein kriegführendes Land dann möglich sind, wenn es nach einem völkerrechtswidrigen Angriff von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch macht.
Doch der Kompromiss scheiterte. Zu viele neue Wünsche tauchten von allen Seiten auf. Zentral war aber, dass Mitte und FDP zunehmend Mühe bekundeten mit dem sicherheitspolitischen Kurs der SP. Sowohl beim Kriegsmaterialgesetz wie bei der Armeebotschaft 2024 habe die Mitte feststellen müssen, dass die SP in Sicherheitsfragen «keine verlässliche Partnerin» sei, sagt Mitte-Nationalrat Reto Nause. Die Lex-Ukraine-Allianz zerbrach. Mitte und FDP bewegten sich in Richtung SVP.
Wichtig ist die Lockerung der Waffenausfuhr vor allem für die Schweizer Rüstungsindustrie. Sie geriet im Zuge des Ukrainekriegs und der restriktiven Wiederausfuhrpolitik des Bundesrates zunehmend unter Druck. Verschiedene Länder betonten, sie würden Rüstungsgüter nicht mehr in der Schweiz kaufen.
Ein Kompromiss mit der SVP war aber nur unter einer Bedingung zu haben: Mitte und FDP mussten ihren bisherigen Lex-Ukraine-Ansatz vergessen. Waffenausfuhren und Wiederausfuhren in die Ukraine bleiben auch künftig tabu. Die SVP war nicht bereit, von diesem Grundsatz abzuweichen – gerade auch wegen ihrer Neutralitätsinitiative.
Diese «Kröte» hätten sie schlucken müssen, bestätigen sowohl Mitte-Nationalrat Nause wie FDP-Nationalrat Heinz Theiler. «Dafür erhalten wir eine Lösung, mit der die Schweiz bei Rüstungsgütern für andere Länder wieder verlässlich wird und die Schweizer Arbeitsplätze in diesem Sektor gesichert werden», sagt Theiler. Und Nause betont: «Wir brauchen einen funktionierenden Rüstungsbereich für unsere Verteidigungsfähigkeit.»
Die Kommission des Ständerats wollte ursprünglich deutlich weiter gehen. Sie strich Absatz 2 von Artikel 22 a zu Auslandsgeschäften aus dem Kriegsmaterialgesetz, wie Kritiker bemängeln. Damit hätten Waffen auch in Länder exportiert werden können, die Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletzen, Kriegsmaterial gegen die Zivilbevölkerung einsetzen und Waffen an unerwünschte Endempfänger weitergeben. Die Nationalratskommission machte dies rückgängig.
Ein Punkt erhält mit dem neuen Regime zentrale Bedeutung: die Liste der 25 Staaten im «Anhang 2». Ihre Zusammensetzung ist politisch umstritten. Es stellen sich verschiedene Fragen.
Wie ist die Liste zusammengesetzt?
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) will diese Frage nicht beantworten, weil Mitte-Nationalrätin Marianne Maret dieselbe Frage in einer noch nicht beantworteten Interpellation gestellt hat. Die inoffizielle Antwort: Die Liste hat politischen Charakter. Zwar gibt es ein Kriterium zu Exportkontrollen, wie das Aussendepartement auf seiner Homepage schreibt. Sie beruhen auf vier völkerrechtlich nicht bindenden internationalen Kontrollregimen: Australiengruppe, Gruppe der Nuklearlieferländer, Raktentechnologie-Kontrollregime und Vereinbarung von Wassenaar. Die Schweiz ist, wie die 25 Staaten auf der Liste, Mitglied dieser Kontrollregime.
Weshalb fehlen diese Staaten?
Interessant ist, dass vier Staaten auf der Liste fehlen, die ebenfalls Mitglied der vier Exportkontrollregime sind: Bulgarien, Südkorea, Türkei und – ausgerechnet – die Ukraine. Brisant ist das Fehlen der Türkei, weil sie ein Nato-Staat ist. Insider geben zu verstehen, es wäre aufgrund der innenpolitischen Situation der Türkei heikel, das Land auf die Liste zu setzen. Die Ukraine wiederum befinde sich im Krieg.
Weshalb fehlen auch einige EU-Staaten?
Es sind nur 17 von 27 EU-Staaten auf der Liste vertreten. Vor allem die neueren Mitgliedsländer fehlen, neben Bulgarien auch Rumänien, die Slowakei, Kroatien, Malta, Zypern, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen. Das sei fragwürdig, sagen selbst bürgerliche Politiker, zumal es in der EU Standard sei, Exportkontrollen nach den vier Regimes umzusetzen.
Was ist das zentrale Kriterium?
Weder scheinen die Nato noch die Wünsche der USA eine entscheidende Rolle für die Zusammensetzung der Liste zu spielen. Alles deutet darauf hin, dass es sich letztlich um eine politische Liste im ureigensten Interesse der Schweiz handelt. Die Regierung nimmt jene Länder auf die Liste, die sie als sicherheitspolitisch vertrauenswürdig taxiert. Der Bundesrat habe sich ein pragmatisches Instrument geschaffen, um Staaten auf die Liste zu setzen oder eben nicht, ohne dass es zu diplomatischen Verstimmungen komme, sagen Insider.
Der Druck aus der Rüstungsindustrie auf die bürgerlichen Politiker war aussergewöhnlich hoch, die Waffenexporte zu lockern. Entsprechend erleichtert reagiert Swissmem, der Verband für die KMU und die Tech-Industrie: «Ohne diese Gesetzesanpassungen kann die Rüstungsindustrie wirtschaftlich nicht überleben.»
Die Linke hingegen ist vor den Kopf gestossen. Sie ergreift das Referendum, wenn das Geschäft durchs Parlament kommt. Die Neuausrichtung des Kriegsmaterialgesetzes sei, kritisiert Kommissionspräsidentin und SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, an «Widersprüchlichkeit nicht zu überbieten».
