Als die Russen kamen, hat sich dieses Dorf selbst überschwemmt – mit grosser Wirkung
Am 25. Februar, dem zweiten Tag des Krieges, wird ein Gebiet nördlich von Kiew von einer Überschwemmung heimgesucht.
Flooding seen on the Sentinel-1 satellite images as well around the town of Demydiv #Ukraine https://t.co/Ksa2W0rLjK pic.twitter.com/MRjBQd6zMQ
— AI6YR (@ai6yrham) March 9, 2022
Wenig später wird darüber spekuliert, ob es sich um eine bewusste Massnahme der Ukraine gehandelt haben könnte. Eine Reportage der «New York Times» bestätigt dies nun.
Der betroffene Damm staut das Wasser des Dnepr und geht in den Nebenfluss Irpin über. Dieser zieht sich entlang des nahe gelegenen Dorfes Demydev bis in den Norden, wo er die etwa 44 km entfernte Hauptstadt Kiew erreicht.
Als sich die russischen Truppen Ende Februar nun der Hauptstadt näherten, sah das ukrainische Militär im Damm eine nützliche Strategie. Denn das Öffnen des Dammes resultierte in einem flachen, ausgedehnten See – vor den russischen Panzerkolonnen. Auch der üblicherweise kleine Fluss Irpin verwandelte sich in ein breites Sumpfgebiet, welches die russischen Streitkräfte zu einem Umweg entlang des Westufers gezwungen hat. Es war denn auch auf diesem Umweg, auf dem sie schliesslich Hostomel, Irpin und Butscha erreichten, wo sie eine Schneise der Zerstörung hinterliessen. Die russischen Gräueltaten in Butscha gingen um die Welt.
Dennoch: Durch die Flut wurden mögliche Überquerungspunkte über den Fluss Irpin unzugänglich gemacht, womit nicht nur Demydev, sondern auch die Hauptstadt geschützt wurde.
To block Russia's advance, Ukrainians intentionally flooded Demydiv, a village north of Kyiv, along with a vast expanse of fields and bogs around it, creating a quagmire. "Everybody understands and nobody regrets it for a moment," one resident said. https://t.co/zTMQp0lclJ pic.twitter.com/UaK7psW1aP
— The New York Times (@nytimes) April 27, 2022
Dafür musste Demydev ein Opfer bringen: 50 Häuser stehen unter Wasser und das Dorf kämpft mit Schlamm und nicht bepflanzbaren feuchten Böden. Auch jetzt noch, 2 Monate später, müssen sich einige Bewohner mit Gummibooten fortbewegen. Aufgrund russischen Beschusses wurde der Damm beschädigt, was nun die Trockenlegung des Gebiets erschwert.
The waters that poured into Demydiv were one of many instances of Ukraine wreaking havoc on its own territory to slow Russia’s advance. Residents couldn’t be happier. “We saved Kyiv,” one said. https://t.co/gw8N9Eogi8 pic.twitter.com/n0ka6bahzP
— Slava Ukraini💙💛 (україни) (@_theUt) April 27, 2022
Da zudem auch noch eine Brücke in Demydev zerstört worden war, war es auch für die Dorfbewohner unmöglich geworden, aus dem Gebiet zu fliehen. Dem Roten Kreuz war es Anfang April allerdings gelungen, eine temporäre kleine Brücke über den Irpin zu bauen. Auf diese Weise wurde die Evakuierung von 15'000 Personen ermöglicht.
Auch wenn Demydev schlussendlich doch von russischen Soldaten besetzt wurde, so geriet es nie an die vorderste Front des Krieges.
A bridge in Demydiv, #Ukraine was destroyed in February, so people couldn't leave or receive humanitarian aid. Volunteers of the Ukrainian Red Cross Vyshhorod branch have built a temporary river crossing, making evacuation possible for 15,000 people. pic.twitter.com/yN5nOsgIi9
— IFRC Europe (@IFRC_Europe) April 9, 2022
«Verbrannte Erde» – eine teure, aber nützliche Strategie
In Kriegszeiten ist es nicht unüblich, dass das Militär die eigene Infrastruktur zerstört, um den Feind am Vorrücken zu hindern. Auf diese Weise wurden bereits mehr als 300 Brücken im Land zerstört, so der ukrainische Minister für Infrastruktur Oleksandr Kubrakov. Ohne zu zögern wurden auch Strassen zerbombt und Zugschienen blockiert. Dadurch werden feindliche Truppen nicht nur gezwungen, Umwege über schlechteres Terrain zu nehmen, sie können dadurch auch in Fallen gelockt werden. Diese Kriegstaktik nennt sich «verbrannte Erde».
«Alle verstehen es und niemand bereut es auch nur für einen Moment», so die Rentnerin Antonina Kostuchenko gegenüber der New York Times. Das Wohnzimmer ihres Hauses in Demydev steht zwar 30 cm unter Wasser, doch mit Stolz sagt sie: «Wir haben Kiew gerettet!»
Gemäss Militärexperten ist die Politik der verbrannten Erde für die Ukraine bisher aufgegangen. Russische Streitkräfte wurden so im Norden auf Abstand gehalten, wodurch sie daran gehindert wurden, Kiew einzunehmen. Es mache Sinn, auf diese Weise schnelle Offensiven zu verlangsamen, so Rob Lee. Der ehemalige Mitarbeitet am Foreign Policy Research Institute lobt die Kreativität der Ukrainer.
Die Strategie hat allerdings ihren Preis. Denn auch die Russen zerstören im Vorrücken weitere Infrastruktur und Einrichtungen, was die Kosten für einen Wiederaufbau in die Höhe katapultiert. Der Schaden an der Transportinfrastruktur wird von der ukrainischen Regierung auf umgerechnet fast 89 Milliarden Franken beziffert.
Die Aufräumarbeiten in Demydev sowie die Trockenlegung des Gebiets dürften noch Wochen, wenn nicht Monate dauern, berichtet die New York Times weiter. Die Mehrheit des Dorfes sei sich allerdings einig: «Das war es wert.» (saw)
