3000 Meter. So gross soll laut ukrainischen und russischen Militärbloggern der Korridor sein, der den ukrainischen Soldaten noch bleibt, um aus Awdijiwka zu fliehen. Die Stadt im Osten der Ukraine wird seit Monaten von drei Seiten eingekreist, nun soll es russischen Truppen gelungen sein, die Hauptversorgungsroute der ukrainischen Armee zu erobern.
Den ukrainischen Truppen, die in der Stadt ausharren, bleibt damit nur noch ein schmaler Streifen von ihnen kontrollierten Territoriums, über den der Nachschub an Munition, militärischem Gerät und medizinischer Versorgung läuft. Jede Bewegung auf diesem Areal ist lebensgefährlich, da es unter russischem Feuer liegt. Dennoch traf der Generalstab vor einigen Tagen eine wichtige Entscheidung.
Kiew schickte die Dritte Brigade in die Schlacht um Awdijiwka.
Die Brigade ist berüchtigt. Gegründet wurde sie erst 2022 als Zusammenschluss von Spezialkräften der ukrainischen Armee, unter anderem aus Resten des Asow-Bataillons, das in der Schlacht um Mariupol eingekesselt worden war und dabei schwere Verluste erlitt. Bislang war die Eingreiftruppe als Reserve zurückgehalten worden, für die besonders kritische Lagen. Eine solche scheint nun eingetreten zu sein.
Der neue ukrainische Armeechef Oleksandr Syrskyj hatte die Lage am Mittwoch bei einem Truppenbesuch als «äusserst schwierig» bezeichnet und eingeräumt, dass die russischen Einheiten dort zahlenmässig überlegen seien. Präsident Wolodymyr Selenskyj sah sich am Abend genötigt, in seiner täglichen Videoansprache zu versichern, dass man alles dafür tue, «den Soldaten an der Front im Osten des Landes die notwendigen logistischen und technischen Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um möglichst viele ukrainische Leben zu retten.»
Das klingt danach, als ob ein Rückzug aus Awdijiwka nur noch eine Frage der Zeit sein könnte, bevor die in der Stadt verbliebene Garnison vollständig eingekesselt wird. Das wäre das Worst-Case-Szenario für Kiew.
«Es ist die Hölle», schrieb der Kommandeur der Dritten Brigade, Andrij Biletskyi, im Onlinedienst Telegram. Die Lage dort sei «bedrohlich und instabil», dennoch habe man Vorstösse gegen russische Truppen in der Stadt unternommen und dabei dem Gegner schwere Verluste zugefügt. Die Schlacht ist also schon in ihre letzte Phase eingetreten: der Häuserkampf.
Laut des US-Thinktanks Institute For The Study Of War (ISW) sollen russische Truppen inzwischen 17,5 Prozent der Stadt kontrollieren. Viel wichtiger ist aber das Territorium um die Stadt herum. Denn das wird zu weiten Teilen vom russischen Aggressor behauptet. Nach dem Verlust ihrer Hauptversorgungsroute, einer Strasse, sind die ukrainischen Verteidiger nur noch über Feldwege zu erreichen.
«Der Nachschub für Awdijiwka und die Evakuierung aus der Stadt sind erschwert, doch wird jetzt eine rechtzeitig vorbereitete logistische Arterie genutzt», versicherte der für den Frontabschnitt zuständige Sprecher, Dmytro Lytschowij, am Donnerstag im ukrainischen Fernsehen. Insgesamt sei die Frontlinie stark in Bewegung und einige ukrainische Einheiten hätten sich auf «vorteilhaftere Positionen» zurückziehen müssen.
Die Industriestadt Awdijiwka hatte vor dem russischen Einmarsch vor knapp zwei Jahren noch mehr als 30'000 Einwohner. Behördenangaben nach sollen derzeit nur noch einige Hundert Zivilisten in den Ruinen ausharren. Denn in Awdijiwka steht so gut wie kein Gebäude mehr. In monatelangen Bombardements hat die russische Armee die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Experten vermuten, dass Machthaber Wladimir Putin die Einnahme der Stadt noch vor dem Wahltag Mitte März verkünden will.
Dafür spricht auch, dass Putin sich vor Kurzem detailliert zu den militärischen Vorstössen in der Region geäussert hat, was er normalerweise nicht tut. «Eine unserer wichtigsten Vorstösse geschah nun bei Awdijiwka», sagte der russische Diktator Ende Januar bei einer Veranstaltung im Kreml. «Dort gelang es unseren Truppen, 19 Häuser einzunehmen.» Noch stehen Putins Truppen nur in den Aussenbezirken, doch die vollständige Einnahme der Stadt wäre für die russische Armee der grösste militärische Erfolg seit der Einnahme von Bachmut im Mai 2023.
«Awdijiwka hat symbolische Bedeutung, genau wie Bachmut», sagt der Politikwissenschaftler Nico Lange im Interview mit der Deutschen Welle (DW). «Es geht Russland darum zu zeigen, dass es noch Orte einnehmen kann.»
Dafür nimmt der 71-Jährige auch schwerste Verluste seiner Truppen in Kauf. Laut US-Geheimdienstangaben sollen alleine seit Oktober 2023 mehr als 13'000 russische Soldaten in der Schlacht um Awdijiwka gefallen sein, dazu konnten die ukrainischen Verteidiger zahlreiches Militärgerät zerstören. Die Generäle in Moskau ficht das offenbar nicht an. Um Putin einen symbolträchtigen Sieg zu bescheren, haben sie bis zu 50'000 Soldaten um die Stadt zusammengezogen. Alleine am Mittwoch befehligten sie 73 Luftangriffe auf Awdijiwka, laut eines Sprechers der ukrainischen Armee sind es normalerweise nur 30 pro Tag.
Am Beispiel Awdijiwkas zeigt sich das derzeit grösste Problem der ukrainischen Armee. Es fehlt an Nachschub. Weil die Mobilisierung ukrainischer Soldaten nur schleppend läuft, bekommen die Einheiten an der Front zu wenige Pausen. Kiew kann seine Truppen nicht so oft rotieren, wie es eigentlich nötig wäre. So hielten Soldaten der 110. Brigade teilweise mehr als ein Jahr ohne Unterbrechung die Stellung in Awdijiwka, bevor sie kürzlich ausgetauscht werden konnten.
A harrowing account from a soldier with Ukraine's 110th Mechanized Brigade who was in the Zenit pocket south of Avdiivka. https://t.co/SUKCeVkKQs
— Rob Lee (@RALee85) February 16, 2024
Zur Erschöpfung kommt der akute Materialmangel. Munition ist ein knappes Gut in der ukrainischen Armee. Der Westen liefert nicht wie versprochen. Und die Ukraine selbst verfügt nicht über die Kapazitäten, der russischen Überlegenheit etwas entgegenzusetzen.
Und noch etwas hat sich im Verlauf der vergangenen zwei Kriegsjahre geändert: Nach übereinstimmenden Berichten ukrainischer und russischer Militärblogger hat die russische Armee ihre Gefechtsstrategie angepasst. Schmissen die Besatzer in der Schlacht um Bachmut vor allem unerfahrene oder schlecht ausgebildete Kämpfer an die Front, hat Russland um Awdijiwka nun einige seiner besten Einheiten versammelt. Auf intensive Luft- und Artillerieangriffe der Russen folgen gezielte Vorstösse russischer Eliteeinheiten. So gelang es Moskaus Armee, langsam, aber kontinuierlich vorzurücken.
«So gehen sie [die Russen] in Awdijiwka vor, erst macht die Artillerie alles dem Erdboden gleich, dann rücken gut ausgebildete und ausgeruhte Spezialkräfte in kleinen Gruppen vor», zitiert das Magazin «Politico» einen ukrainischen Offizier.
Offenbar wächst auch der Unmut unter ukrainischen Experten über die Situation in Awdijiwka. «Es gibt dort quasi kein Leben mehr. Wir machen dieselben Fehler wie in Bachmut», zitiert «Politico» eine Analyse des ukrainischen Militärportals «DeepState». Wozu die Stadt also überhaupt noch verteidigen und dafür viele Menschenleben riskieren?
Dazu merkt der Politikexperte Nico Lange an: «Ich vermute, dass die Frage, ob Awdijiwka gehalten wird oder nicht, ein Teil des Streits zwischen General Saluschnyj und Präsident Selenskyj gewesen ist. Das Ergebnis ist bekannt: Nun führt General Syrskyj die Truppen an.»
Der von seinem Posten als Oberbefehlshaber entlassene Walerij Saluschnyj hatte bereits bei der Schlacht um Bachmut mehrfach darauf gedrungen, die eigenen Truppen abzuziehen. Selenskyj hingegen wollte die Stadt unbedingt halten und forderte eine Fortführung der Kämpfe. Diese eher defensive Taktik dürfte ihn unter anderem das Amt gekostet haben.
Mit dem neuen Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj hat der ukrainische Präsident nun einen General ernannt, der für eine rigorose Linie bekannt ist. «Soweit ich weiss, konzentriert sich Syrskyj im Vergleich zu Saluschnyj mehr auf militärische Ziele und weniger auf die Vermeidung von Verlusten», sagt der ehemalige Offizier des britischen Militärgeheimdienstes Frank Ledwidge gegenüber DW. Für die verbliebenen ukrainischen Soldaten in Awdijiwka könnte das eine schlechte Nachricht sein.
Die USA warnten bereits vor einer Einnahme der Stadt durch Russlands Truppen. «Leider erhalten wir von ukrainischer Seite Berichte, dass die Lage kritisch ist und die Russen jeden Tag weiter Druck auf ukrainische Stellungen ausüben», sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA, John Kirby. Es bestehe die Gefahr, dass Awdijiwka «unter russische Kontrolle gerät».
Da die Republikaner, angeleitet von Donald Trump, ein Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von rund 60 Milliarden Dollar blockiert haben, können die Truppen Kiews auch weiterhin nicht mit mehr Munition und schwerem Gerät rechnen. An der Front bedeutet das jeden Tag den Verlust von Menschenleben. «Es ist ein Kampf um Leben und Tod», schildert ein ukrainischer Hubschrauberpilot im US-Sender CNN die Lage. «Wir bekommen nicht die Unterstützung, die wir brauchen, aber wir kämpfen weiter. Was bleibt uns anders übrig?»
Warum versteht der Westen nicht, dass jeder Meter, der zurückgeholt werden muss, ein x-Faches an Material und Menschen braucht, als die Verteidigung!
So wie das ganze aussieht wird Russland sein Gebiet definitiv erweitern können.
Und dies auf Kosten vom Frieden im Westen!
Ich würde gerne in die Köpfe der Entscheidungsträger sehen.
Mit aller Symphatie für die Ukraine, darf man hier auch Kritik anbringen. Ist es das Halten der Stadt wirklich Wert, einen Verlust einer Vielzahl von Soldaten und Ausrüstung zu riskieren?
Aus meiner Sicht wurde hier der richtige Zeitpunkt für ein Rückzug verpasst.