International
Interview

Russland: Historikerin sieht Ende von Putin-Regime

epa09736555 Russian President Vladimir Putin looks up during a press conference with French President Emmanuel Macron after their talks in the Kremlin in Moscow, Russia, 07 February2022. International ...
Putin während einer Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Moskau, 07.02.2022.Bild: keystone
Interview

«Putins Tage sind gezählt»

Die Historikerin Françoise Thom im Interview über Wladimir Putins «paranoide Logik», Manipulationsversuche im Westen und zur Frage, ob Russlands Präsident eine Atombombe zünden würde.
15.02.2024, 23:03
Stefan Brändle, Paris / ch media
Mehr «International»

Als Putin-Kritikerin können Sie derzeit nicht nach Russland reisen. Wie haben Sie Wladimir Putins Interview mit Tucker Carlson aus der Ferne erlebt?
Putin ist völlig in seiner paranoiden Logik gefangen - er verteidigte sogar Hitler mit der Behauptung, dieser sei von Polen 1939 zum Einmarsch in ihr Land gezwungen worden. Ziel des Auftritts war es, den US-Kandidaten Donald Trump zu stärken und nach einem Sieg über eine munitions- und waffenlose Ukraine die westlichen Sanktionen loszuwerden. Deshalb gibt er sich verhandlungsbereit. Wobei Verhandeln für Putin einzig und allein heisst, die Bedingungen der ukrainischen Kapitulation festzulegen.

Sicher scheint, dass Putin im März wiedergewählt wird.
Ja, die Gouverneure haben offenbar Anweisung erhalten, seinen Sieg bei etwas mehr als 80 Prozent festzulegen. Die Russen stimmen elektronisch ab, und diese Prozedur dauert drei Tage – da besteht genug Zeit, das gewünschte Ergebnis herzustellen. Zugleich glaube ich allerdings, dass Putins Tage gezählt sind.

Wie das?
Ich habe den Eindruck, dass wir den Anfang vom Ende seines Regimes erleben. Die Russen sehen, wie sich die Probleme in ihrem Land anhäufen. Im Staatsapparat denken viele, dass Wladimir Putin das Land in die Mauer fährt. In Moskau beginnt meines Erachtens langsam die «Entputinisierung». Die Umstände erinnern mich an das Ende Stalins 1953: Schon zu seinen Lebzeiten gab es eine Art verdeckter Entstalinisierung.

Auch sonst gibt es Parallelen zum heutigen Regime Putins.
Stalin war am Ende seines Lebens so paranoid, dass er einen Dritten Weltkrieg vorbereitete; er liess Intellektuelle und Weltoffene verfolgen, betrieb die Militarisierung der Gesellschaft. Zugleich bereiteten die innersten Machtzirkel 1952 die Entstalinisierung vor. Was sich damals in Moskau abspielte, könnte sich heute wiederholen. Viele Indizien deuten auf die Dämmerung des Putin'schen Regimes hin.

Zur Person:

Françoise Thom – Russland-Historikerin: Françoise Thom ist eine der renommiertesten Russland-Historikerinnen der Pariser Sorbonne-Universität. Die 72-jährige Sowjetologin gab 2022 unter anderem das Bu ...
Françoise Thom – Russland-Historikerin: Françoise Thom ist eine der renommiertesten Russland-Historikerinnen der Pariser Sorbonne-Universität. Die 72-jährige Sowjetologin gab 2022 unter anderem das Buch «Poutine ou l’obsession de la puissance» (Putin oder die Besessenheit von der Macht) heraus.bild: zvg

Welche denn?
Schauen Sie, was bei der Fahrt des Söldners Jewgeni Prigoschin nach Moskau passierte. Da war niemand, der Putin verteidigte. Oder nehmen Sie Valery Solowey, ein Professor aus dem Machtapparat, der seit langem deklariert, Putin sei schwer krank, und der eine Majestätsbeleidigung nach der anderen begeht. Erstaunlich ist nicht das, sondern dass er weiterhin in Freiheit ist. Er muss von hoher Stelle geschützt sein, sonst hätte er schon längst 20 Jahre Strafkolonie erhalten.
Auch der – unterbundene – Präsidentschaftskandidat Boris Nadeschdin hat zweifellos die Rückendeckung eines «Kreml-Turms», wie man die verschiedenen Machtfraktionen in Moskau nennt; sonst hätte er nicht wochenlang an Putins Stuhl sägen können. Sein Programm war eine einzige «Entputinisierung»: Es übt offen Kritik am Kurs des Präsidenten, es bezeichnet den Krieg in der Ukraine als Fehler und die Wendung nach Osten und China als Katastrophe. Dass Nadeschdin nicht zur Wahl zugelassen wird, zeigt die Angst im Kreml.​

Wie könnte Putins Ablösung vonstattengehen?
Im Kreml ändern sich die Machtverhältnisse meist durch Palastrevolutionen. Die Frage ist, wann. Putin wird meiner Meinung nach nicht abgelöst, solange die Ostukraine nicht fest in der Hand Russlands ist. Denn die Nachfolger Putins wollen die Drecksarbeit nicht selber erledigen. Aber wenn das geregelt ist, wird Putin ersetzt, allein schon, um Europa zu gefallen und zu versuchen, die Sanktionen zu überwinden.

FILE - French President Emmanuel Macron, right, shakes hands with Russian President Vladimir Putin after their meeting at the fort of Bregancon in Bormes-les-Mimosas, southern France, on Aug. 19, 2019 ...
Ein Bild aus friedlichen Zeiten: Wladimir Putin und Emmanuel Macron 2019 in Südfrankreich.Bild: keystone

Hat Putin deshalb ein persönliches Interesse, den Krieg hinzuziehen?
Natürlich will er die Ukraine ausmerzen, so wie Stalin mit der Hungerwaffe zwei Generationen der Ukraine vernichtete. Diesbezüglich herrscht in Moskau Konsens. Putin wird in seinem Land nicht kritisiert, weil er Krieg führt, sondern weil er es von Beginn an falsch angepackt und den Auftakt zum Krieg verpatzt hat. Aber der Krieg und die Militarisierung des Landes sichern nebenbei auch seine eigene Stellung.

Wie ist denn Putins Rückhalt in der Bevölkerung? Glauben die Russen der permanenten Desinformation, die aus Wolodimir Selenski einen «Nazi» und aus Russland eine «von aussen bedrohte Nation» macht?
Ja, ich glaube, die grosse Masse glaubt das. All die, die Fernsehen schauen, werden völlig erschlagen von der Propaganda. Die meisten sind überzeugt, dass der Westen Russland zerstören will. Nur eine kleine urbane Elite merkt, dass das pure Lügen sind, Fake News.

Auch Europa ist Putin auf den Leim gegangen. Aus naiver Blindheit?
Ja, aber aus unterschiedlichen Gründen. In Deutschland gibt es seit dem Vertrag von Rapallo von 1922 eine russophile Lobby. Die Wirtschaft mit Kanzler Schröder an der Spitze blieb es viele weitere Jahre lang. Zudem vermochte Putin die deutschen Schuldgefühle seit dem Zweiten Weltkrieg sehr gut auszunützen. In Frankreich waren dagegen eher die Intellektuellen russophil, und zwar aus purem Antiamerikanismus.

In der Schweiz, aber auch anderswo, hegen gewisse Kreise trotz russischer Kriegsverbrechen eine gewisse Affinität zu Putins Regime. Erstaunt Sie das?
Die Schweiz ist für Moskau interessant. Die russischen Spionageversuche in der Schweiz gehen bis auf den Zweiten Weltkrieg zurück. Neutrale Länder haben Moskau als Drehscheibe immer interessiert, wie Österreich oder Finnland. Diese Länder erlaubten im Kalten Krieg auch die Umgehung der US-Spionageabwehr bis hin zu Parallelimporten.

Anders als die EU-Staaten verbietet die Schweiz Propagandasender wie Russia Today (RT) oder Sputnik nicht. Verstehen Sie das?
Es ist, als hätte der Krieg in der Ukraine die Schweiz nicht aufgeweckt. Diese russischen Sender betreiben pure Propaganda, dazu auch Subversion; und sie heuern Russlandfreunde an, nützliche Idioten, die sich vor ihren Karren spannen lassen. Das läuft den Interessen der Schweiz klar zuwider.

In der Schweiz finden wir auch rechtskonservative Kreise vor, die ihre Gegner früher per «Moskau einfach» loswerden wollten, heute aber Putin als Bannerführer gegen die westlich-amerikanische Dekadenz sehen. Kurios, nicht?
Wir müssen uns endlich klar werden, wie effizient und einflussreich die russische Propaganda ist. Dabei ist Russlands moralischer Zustand nach zwanzig Jahren hasserfüllter Propaganda absolut katastrophal. Und doch glauben in Europa einige an Putin als Wächter westlicher Werte.

Glauben Sie, dass Putin jemals eine Atomwaffe zünden könnte?
Ich denke nicht. Putin handelt wie ein Schurke, der angreift, wenn er sich in einer starken Position wähnt, aber letztlich feig und ängstlich ist. Er weiss, dass Nuklearwaffen die rote Linie sind und den Westen zu einer Reaktion zwingen würden. Das will er nicht.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Ukraine veranstaltet «Militärparade» und trollt Putin
1 / 14
Ukraine veranstaltet «Militärparade» und trollt Putin
Als die Russen im Februar 2022 die Ukraine überfielen, planten sie, wenige Tage später im Zentrum Kiews eine Parade abzuhalten. Doch es kam anders ...
quelle: keystone / roman pilipey
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Keine Zeit? Das zweistündige Putin-Interview in 6 Minuten
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
193 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
mikel
15.02.2024 23:32registriert Februar 2014
Hoffen wir, dass sie recht hat. Es ist schon verrückt, wie viele Putin Anhänger es auch im Westen gibt und wie wenig der Westen im Machtspiel mit Putin auf die Reihe kriegt.
22818
Melden
Zum Kommentar
avatar
HugiHans
15.02.2024 23:21registriert Juli 2018
Interessante Ansätze die Frau Thom aufwirft. Die Frage ist wohl, ob die Zeit für oder gegen Putin spielt. Vieles scheint somit von der Entwicklung in der Ukraine abhängig, um so wichtiger ist, dass die Unterstützung des Westens jetzt nicht nachlässt!
19414
Melden
Zum Kommentar
avatar
Sani-Bär
15.02.2024 23:53registriert April 2021
Putin und seine Oligarchen werden von einer unserer Regierungsparteien unterstützt.
Sogar der Kanton Zug lässt ganz offiziell Firmen mit russischem Gold, Öl und Gas handeln.
Weil es sich gemäss Politikus um "russische Altbestände" handle.
Dann gibt es noch einen Tattergreis und einen verwirrten Schmus-Journalisten, die sich öffentlich für ihren Freund Vladolf Putain einsetzen und mit allen Mitteln Sanktionen gegen Russland verhindern wollen, da sie mit diesem Kleptokraten viel Geld verdienen.
Geld stinkt nicht ...
19121
Melden
Zum Kommentar
193
Nach Protesten gegen Regierung in Kuba: Lange Haftstrafen für Demonstrierende

Nach Protesten gegen die Regierung hat ein Gericht in Kuba nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten mehrere Teilnehmer der Demonstrationen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Provinzgericht von Camagüey habe gegen 13 Menschen Freiheitsstrafen zwischen vier und 15 Jahren wegen Aufwiegelung verhängt, teilte die Kubanische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (OCDH) mit Sitz in Spanien am Sonntag mit. Zu der längsten Haftstrafe wurde eine damals 21-jährige Frau verurteilt, die Videos von den Protesten gegen die ständigen Stromausfälle im August 2022 in der Stadt Nuevitas in der Provinz Camagüey im Internet veröffentlicht hatte.

Zur Story