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Ukraine: Die Hölle von Lyssytschansk – Krieg aus den Augen eines Kindes

May 28, 2022, Lysychansk, Luhanska Oblast, Ukraine: A truck on fire can be seen on the bridge connecting Severodoonetsk and Lysychansk, Luhansk. As Russian troops launching the offensive from multiple ...
28. Mai 2022: Auf der Brücke zwischen Sjewjerodonezk und Lyssytschansk: ein brennender Lastwagen.Bild: imago-images

Die Hölle von Lyssytschansk: Krieg aus den Augen eines Kindes

Die zwölfjährige Mascha lebt in der heftig umkämpften ostukrainischen Stadt Lyssytschansk. Sie streift allein durch die zerstörten Strassen, als die erste Rakete einschlägt.
07.06.2022, 09:0307.06.2022, 15:40
Joana Rettig, Lyssytschansk / watson.de
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Gibt es ein Szenario, in dem Kidnapping moralisch vertretbar ist? Kindesentführung für den guten Zweck? Etwa im Krieg?

Mascha zuckt nicht einmal mehr.

Als die Artillerie in der ostukrainischen Stadt Lyssytschansk nach draussen schiesst, sitzt das zwölfjährige Mädchen vor einem Zentrum für humanitäre Hilfe. Sie kniet am Strassenrand, zwischen einem Park und dem gewaltigen, hellgelben Gebäude, das von weissen Sandsäcken umringt ist: Sie schützen vor direktem Beschuss und Schrapnellen.

Dass Bomben nach draussen geschossen werden, erkennt man am Geräusch. Eine Abwehrrakete knallt. Brachial, hallend, beeindruckend. Aber es ist nur ein Knall. Mehr nicht. Eine Rakete, die angreift, rauscht und pfeift, bevor sie knallt. Sie schlägt ein, kracht ohrenbetäubend und erschüttert alles in ihrer Umgebung.

Das Kind streichelt einen Hund. Es knallt. Sie geniesst die Sonne. Ein lauterer Knall. Der Hund zieht den Schwanz ein. Mascha redet mit Fremden vor dem Haus. Lacht. Wieder ein Knall. Gelernte Praxis. Einfach weitermachen.

Doch die Geräusche werden lauter.

Die 12-jährige Masha aus Lyssytschansk streichelt einen Hund
Die zwölfjährige Mascha streichelt einen Hund vor einem Hilfszentrum in Lyssytschansk.Bild: watson/Joana rettig

Die Abwehrgeschosse kommen offenbar immer näher. Das macht jene nervös, die bei Mascha stehen: teilweise aus dem Ausland eingereiste Helferinnen und Helfer, die gekommen sind, um Hilfsgüter zu liefern und Menschen zu evakuieren. Die gesamte Region ist von Lieferketten abgeschnitten.

Die Helfenden stehen vor dem Center und warten auf den Rest ihrer Kollegen – die in die wohl gefährlichste der momentan umkämpften Städte gefahren sind: Sjewjerodonezk, das nur wenige Kilometer entfernt von Lyssytschansk liegt.

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Da ist Kevin, ein ehemaliger US-Militär-Sanitäter. Da ist Pascha, ein Ukrainer, der aus der Hauptstadt Kiew kommt, um hier im Osten zu helfen. Margarita – kurz Margo – und Iwanowitsch gehören auch zum Team. Sie schauen sich gerade in der Gegend um, denn Margo dreht einen Dokumentarfilm. Sie ist Filmstudentin in Berlin, kommt ursprünglich aus der Ukraine, aus der Region Luhansk.

Kevin ist aus den USA in die Ukraine gereist, um bei Evakuierungen zu unterstützen.
Kevin ist aus den USA in die Ukraine gereist, um bei Evakuierungen zu unterstützen.Bild: watson/joana rettig

Und dann ist da das Kind. Mascha. Ein dünnes Mädchen mit langen, blonden Haaren. Zerbrechlicher Körper, widerstandsfähiger Geist. Mit ihrem Blick strahlt sie Wärme aus, aber auch Gleichgültigkeit, vielleicht Müdigkeit. Als würde sich der Krieg in ihren grünen Augen spiegeln – und allem die Farbe nehmen, alles grau tönen.

Das Kind mit dem grauen Pullover, den verwaschenen Jeans und der Sonnenbrille erzählt von seiner Familie. Sie lebe mit ihren zwei Geschwistern und ihren Eltern hier in der Stadt, erzählt Mascha. Mascha ist der Kosename für Maria. «Wir gehen hier nicht weg», sagt sie auf Russisch. Dann lacht sie, als Kevin versucht, den zitternden Hund mit Leckerlis zu beruhigen.

Zerstörte Häuser, Strassen, Laternen, Autos: ein Bild der Hölle

20 Minuten vorher hatte einer der Mitarbeitenden des Hilfszentrums verboten, Fotos vom Gebäude zu machen. Weder innen noch aussen. «In Sjewjerodonezk gab es vier solche Zentren», schrie der Mann mit Pferdeschwanz Margo an, die gerade mit ihrer Kamera durch die Eingangshalle gelaufen war. «Jetzt gibt es nur noch eines, die Russen haben alle anderen zerstört.»

Lyssytschansk ist neben Sjewjerodonezk die einzige Stadt in der Region Luhansk, die noch von der Ukraine kontrolliert wird. Wobei die Nachbarstadt Sjewjerodonezk kurz vor dem Fall steht. Während die Helferinnen und Helfer in Lyssytschansk warten, greifen gerade russische Truppen die einzige noch funktionierende Brücke an, die dort hinein und wieder heraus führt.

Ein zerstörtes Wohnhaus im Stadtkern von Lyssytschasnk.
Ein zerstörtes Wohnhaus im Stadtkern von Lyssytschansk.Bild: watson/joana rettig

Seit Beginn des Krieges Ende Februar ist der Aufenthalt in diesem Gebiet lebensgefährlich. Jede Nacht wird Lyssytschansk beschossen. Häuser, Strassen, Laternen, Autos: In jeder Strasse zeichnet sich ein Bild der Hölle. Auch tagsüber kommt es häufig zu Bombardements. Selbst der Weg dorthin kann tödlich enden. Er führt über eine lange geradlinige Strasse, die von russischen Truppen leicht einzusehen ist. Vor wenigen Tagen wurde offenbar genau auf dieser Strasse ein französischer Journalist durch eine russische Granate getötet.

Mascha ist an diesem Tag allein im Stadtgebiet unterwegs.

Dieser Tag, der vermutlich ihr künftiges Leben bestimmen wird.

«Wir sollten uns vielleicht ein wenig von hier weg bewegen», sagt Kevin, während er sich an einen Ambulanzwagen der Helfenden lehnt. Er tippt sich ans Ohr, blickt nach rechts und links. «Hört ihr nicht, dass die Geschosse näher kommen? Das ist kein gutes Zeichen.» Wenn die Abwehr näher kommt, kommt wohl auch ein Angriff näher. «Wir sollten verschwinden.»

Doch so weit kommt es nicht.

Es pfeift.

Es rauscht.

Es kracht, die Erde bebt.

Alle werfen sich auf den Boden. Alle, nur das Kind bleibt stehen. Sie blickt um sich. Schaut nach oben, rechts und links. Ihre grün-grauen Augen suchen Halt.

Pasha ist aus Kiew in den Osten der Ukraine gereist, um zu helfen.
Pascha ist aus Kiew in den Osten der Ukraine gereist, um zu helfen.Bild: watson/joana rettig

Mascha weiss nicht, wie sie sich verhalten soll – woher auch? Wer hätte es ihr beibringen können?

Wieder kommt der tödliche Pfiff. Der Knall, das Beben.

Kevin packt das Mädchen an den dürren Armen, reisst es nach unten. Da liegt sie nun und weiss wieder nicht weiter. Kurz ist Ruhe. Da schallen schon die Rufe: «Go, go, go», schreit Pascha und zerrt das Mädchen wieder nach oben. Er zeigt auf das Hilfszentrum, da sollen sie rein.

Mascha rennt und rennt – die 20 Sekunden fühlen sich an wie eine Ewigkeit. Kurz bevor sie den Eingang erreicht hat, pfeift, rauscht, kracht es wieder. Und wieder. Und wieder.

Mascha rennt weiter. Geht im Chaos der Hilfesuchenden im Eingangsbereich unter.

Margo studiert Film in Berlin und kommt ursprünglich aus Luhansk.
Margo studiert Film in Berlin und kommt ursprünglich aus Luhansk.Bild: watson/joana rettig

Schreie, Gedränge, Gebete, Umarmungen verhallen im tosenden Rauschen der Raketen. Klirrende Fensterscheiben, Einschläge, herunterkrachende Steinbrocken sind zu hören. Mascha ist nicht zu sehen. Rund 100 Menschen quetschen sich in einen Seitengang im Inneren des Zentrums. Sie drücken sich an Wände, die mit Kinderzeichnungen und Zertifikaten behängt sind.

Aus einem Lüftungsschacht wächst Efeu.

Eine alte Frau mit rot gefärbten Haaren steht an einer Säule, reisst die Augen auf, blickt hin und her – und hält sich die Hände vor den Mund. Andere schreien einander an.

Dann schlägt erneut eine Rakete ein. Und für den Bruchteil einer Sekunde ist alles ganz still. Ein Polizist rennt vorbei, hält sich ein Funkgerät ans Ohr. Wieder ein Einschlag. Die Menschen gehen in die Knie. Das Wimmern einer Frau ist zu hören. Ihre jugendliche Begleiterin tröstet sie.

30 Minuten dauert der Angriff. 30 Minuten lang schreien, zucken, weinen die Menschen. Dann ist Ruhe. Viermal wurde das humanitäre Hilfszentrum getroffen. Als es fünf Minuten am Stück still ist, schlüpft ein grauer Pullover durch die aneinander gepressten Arme zweier Stadtbewohnerinnen. Mascha grinst, als sie sich an den Arm der Autorin klammert. Sie schaut mit ihren grünen Augen nach oben und drückt ihr Gesicht in eine Umarmung.

Margo und Iwanowitsch kommen angerannt. Was ist jetzt der Plan? Eigentlich sollten Menschen aus Sjewjerodonezk evakuiert werden. Doch hier ist der Bedarf gerade massiv gestiegen. Und: Länger vor Ort zu bleiben, könnte in einen neuen Angriff münden, könnte diesmal tödlich sein.

Margo spricht fliessend Russisch. Die dünne Frau mit dem hellbraunen Kraushaar stellt sich vor die Menschen und spricht zu ihnen. «Ich habe gefragt, wer mit uns gehen will», erklärt sie und sieht glücklich aus. «Viele wollen jetzt flüchten.»

Szene einer Evakuierungsaktion aus Lyssytschansk am Tag vor dem Angriff. Im Hintergrund ist das Gebäude erkennbar, das heute vollständig zerstört ist.
Szene einer Evakuierungsaktion aus Lyssytschansk am Tag vor dem Angriff. Im Hintergrund ist das Gebäude erkennbar, das heute vollständig zerstört ist.Bild: watson / joana rettig

Aber was ist mit dem Mädchen, das sich noch immer fest an den Arm der Journalistin krallt? Wo sind ihre Eltern?

Margo spricht schnell, aber bedacht. Sie nimmt die Hand des Mädchens. Das Mädchen antwortet und wirkt verzweifelt. «Ihre Mutter will nicht von hier weg, sie wollen nicht flüchten, aber Mascha will unbedingt hier raus», übersetzt Margo.

Kevin stösst dazu und macht Druck. «Wir müssen los», sagt er. Doch Margo hält inne. Sie blickt zu Mascha herunter. Dann zu Kevin. Zu den Menschen im Gang, die mit ihren Notfalltaschen auf ihre Flucht warten. Wieder schaut sie Mascha an. «Margo, wenn du sie hier lässt und sie heute Nacht bei einem neuen Angriff stirbt, wirst du dir das nie verzeihen», sagt Kevin.

Probleme mit der Polizei?

Ist das nun eine solche Situation? Sollte ein Kind aus einer Gefahrensituation gezogen werden – auch, wenn das rechtliche Konsequenzen haben kann? Wann ist Kidnapping moralisch vertretbar? Gerade hat das Mädchen einen Bombenhagel überlebt. Jede Minute könnte ein neuer kommen. Und Mascha will da raus. Will raus aus dieser Stadt, dieser Hölle. Doch ihre Eltern nicht.

Margo fragt Mascha etwas auf Russisch – und das Kind nickt. «Wir nehmen sie mit», sagt die Helferin. «Wenn wir in Sicherheit sind, rufen wir ihre Mutter an.»

watson-Redakteurin Joana Rettig mit Masha in Slowjansk.
watson-Redaktorin Joana Rettig mit Mascha in Slowjansk.Bild: watson/joana rettig

Drei Stunden später sitzen Margo und Mascha vor einem Krankenhaus in der ostukrainischen Stadt Slowjansk. Margo telefoniert aufgebracht, Mascha hört zu.

«Wir sollen sie wieder zurückbringen», sagt Margo. Ohne Ausdruck in ihrem Gesicht. «Die Mutter ist schon bei der Polizei, wir bekommen Probleme.»

Doch Mascha hat Überzeugungskraft. Am nächsten Tag wird die Mutter von dem Team der Helfenden mit ihren zwei weiteren Kindern und anderen Geflüchteten aus der Stadt geholt.

Der Vater bleibt.

Nachtrag: Hilfszentrum vollkommen zerstört
Etwas mehr als eine Woche nach dem ersten Angriff auf das Zentrum für humanitäre Hilfe in Lyssytschansk wurde es erneut angegriffen, wie der Leiter der Gebietsverwaltung von Luhansk am Sonntag mitteilte. Das Gebäude kann nicht mehr genutzt werden.
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18 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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kleine_lesebrille
07.06.2022 10:18registriert Mai 2022
Einfach nur ein schrecklicher Bericht. Es zeigt jedoch nur ein einziges Schicksal. Es gibt viel zu viele dieser traurigen Geschichten.
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