So wird der Start der ukrainischen Gegenoffensive aussehen – alles andere ist noch offen
Es ist bereits das geflügelte Wort zum aktuellen Kriegsverlauf: «Wir werden erst merken, dass diese Offensive stattgefunden hat, wenn sie schon vorbei ist», sagt Marcus Keupp in einem ZDF-Interview.
Der Militärökonom von der ETH Zürich will damit gegen die allgemeine Erwartungshaltung anreden, dass der lange schon antizipierte ukrainische Gegenschlag im Stile einer Zweit-Weltkriegs-Schlacht mit einem stundenlangen Artillerie-Trommelfeuer und gewaltigen Panzervorstössen beginnen wird.
Vielleicht, so Keupp weiter, seien zur Offensive gehörende Schläge gegen die russische Infrastruktur und Logistik bereits im Gange; entsprechende Beobachtungen wiesen darauf hin. Wenn überhaupt, werde der grosse ukrainische Durchbruchsversuch mit den frisch gelieferten westlichen Panzern den Abschluss und nicht den Anfang der Gegenoffensive bilden.
«Die ukrainische Armee wird nicht wild um sich schiessen. Vielmehr beginnt die Gegenoffensive mit taktischer Aufklärung und dem Ausloten von Schwachstellen in der russischen Frontlinie», bestätigt ein anderer renommierter Beobachter der Lage, der Leiter des deutschen Zentrums für Sicherheit und Verteidigung, Christian Mölling.
Im Gegensatz zu Keupp sieht dieser jedoch noch keine Anzeichen für den Auftakt der ukrainischen Gegenmassnahmen: «Zumindest ist nicht ersichtlich, dass die Ukraine grosse Truppenkörper in Richtung Front bewegt», sagt Mölling im Interview mit dem Portal «t-online».
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Welche Rolle spielt der Untergrund?
Der deutsche Generalleutnant ausser Dienst, Erhard Bühler, bringt noch zwei weitere Faktoren ins Spiel: Zuerst müsse die Ausbildung neuer Einheiten und die Integration des neuen Materials in die ukrainischen Brigaden abgeschlossen werden, sagt der frühere Nato-Kommandeur in seinem wöchentlichen Podcast «Was tun, Herr General?».
Und zweitens müssten sich die Geländeverhältnisse verbessern: «Der Frühling muss kommen, damit die Böden abseits der Strassen trocknen. Das ist noch nicht erfolgt. Wir werden uns noch etwas gedulden müssen.»
Aber selbst in diesen auf den ersten Blick simplen Fragen gehen die Expertenmeinungen auseinander: Für Mölling stelle sich die «Frage der Ausbildung nicht». Dafür hätten die Ukrainer bereits zu viel Erfahrung und eine zu hohe Moral.
Beim Wetter stimmt das britische Verteidigungsministerium in seiner aktuellen Lagebeurteilung vom Freitag zu, dass die weichen Untergrundverhältnisse und der Schlamm in grossen Teilen der Ukraine «die Operationen auf beiden Seiten behindern». Jedoch stellten insbesondere russische Onlinekanäle die Bedeutung des Schlamms übertrieben dar.
Minen sind laut britischem Tagesrapport das viel grössere Hindernis für mechanisierte Einsätze abseits der Strassen dar als der Schlamm; denn das Wetter werde rasch besser werden. Gegenteilige Behauptungen seien bloss russische Versuche, die Moral der eigenen Truppen angesichts des erwarteten ukrainischen Gegenangriffs zu heben, heisst es seitens der britischen Militäraufklärung.
Viel zitiert wurde in den vergangen Tagen schliesslich der ukrainische General und Geheimdienstchef Kirill Budanov. Seine Prognose im Interview mit dem US-TV-Network ABC, wonach die ukrainischen Streitkräfte noch vor Ende des Frühjahrs auf die Krim einmarschieren und diese zurückerobern werden, ist genau das, was der Westen hören will.
Selbstverständlich sind aber solche genau kalkulierten Aussagen und Interviews bloss ein Teil des Informationskriegs, der auf beiden Seiten unvermindert anhält und immer raffinierter geführt wird.
Budanov war es auch, der jüngst die russische Frühjahrsoffensive per 31. März für beendet erklärte, ohne dass der russische Todfeind irgendeines seiner operationellen Ziele erreicht hätte. Einzig in Bachmut und Avdiivka seien die erbitterten Kämpfe noch im Gang und die ukrainische Armee unter Druck. Bachmut werde aber weiterhin gehalten, und überall sonst habe Russland keine Angriffskapazitäten mehr, behauptet der Geheimdienstgeneral.
Für Aussenstehende abseits der Generalstäbe und Geheimdienste ist jedoch das Ende der russischen Offensive genauso schwierig nachzuvollziehen, wie der Start der ukrainischen Gegenbewegungen festzumachen ist.
Wenn selbst die Militärexperten zu solch unterschiedlichen Auffassungen neigen, wie es in dieser diffusen Zwischenphase des Ukrainekriegs der Fall ist, kann man sich wirklich nur noch an Marcus Keupps Wort halten: «Wir werden erst merken, dass diese Offensive stattgefunden hat, wenn sie schon vorbei ist.» (aargauerzeitung.ch)
