Ein angeblicher Mitarbeiter des russischen Geheimdiensts FSB zeichnet in einer Analyse ein schonungsloses Bild davon, wie planlos das russische Vorgehen in der Ukraine ist. Weil auch die Spezialisten nicht gewusst hätten, dass Russland tatsächlich einmarschiert, gebe es keine Pläne.
Analysten hätten für vermeintlich hypothetische Planspiele geliefert, was die Politik hören wollte: «Aber dann stellt sich heraus, dass die Hypothese Realität geworden ist, und die Analyse, die wir dazu durchgeführt haben, ist totaler Müll», heisst es in dem Bericht. «Wir sitzen bis zum Hals in der Scheisse.» Er sieht keine Möglichkeit, dass Russland einen Sieg davonträgt.
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Das Schreiben ist Sprengstoff. Es gibt Einblick in ein Land, das durch den Krieg im Blindflug Richtung Absturz unterwegs ist und keinen Ausweg hat. Wahrscheinlich auch deshalb verbreitet sich die Einschätzung rasend und wurde sie bereits in diverse Sprachen übersetzt.
🧵My translation of the analysis of the current situation in Russia by an active FSB analyst. Buckle up for a long thread and definitely please share far & wide. The full text is over 2000 words. This is a highly insightful look behind the curtain - covers many subjects.— Igor Sushko (@igorsushko) March 6, 2022
Es könnte Wunschdenken der Angegriffenen sein – oder Propaganda. Das sagte etwa Wulf Schmiese, Redaktionsleiter des «heute journals». Er twitterte aber auch: «Sollte das authentisch sein, dann hat Putin sich verzockt.» Und Militärexperten hätten dem ZDF ähnliche Einschätzungen geliefert.
Der Journalist und Autor Luke Harding, langjähriger Moskau-Korrespondent des «Guardian», nennt es auf Twitter «eine verheerende Anklage eines FSB-Insiders angesichts des katastrophalen Kriegs Russlands in der Ukraine» – wenn es denn echt sei.
Die Frage kann niemand sicher beantworten. Dass es echt ist, vermutet aber zumindest Christo Grozev. Der «Bellingcat»-Journalist ist guter Kenner des russischen Geheimdienstes: 2019 hatte er für investigative Recherchen zur Identifizierung der mutmasslichen Giftattentäter von Sergej und Julia Skripal den European Press Prize gewonnen. Die Ukraine habe zur psychologischen Kriegsführung zwar bereits gefälschte Schreiben durchsickern lassen.
Der Brief sei aber ungewöhnlich lang. Das spreche demnach für seine Authentizität: Mit der Länge wachse das Risiko für Fälscher, einen Fehler zu machen. Zwei Kontakte, aktuelle oder ehemalige FSB-Ansprechpartner, hätten keinen Zweifel gehabt, dass das Schreiben tatsächlich von einem Kollegen stammt – auch wenn sie nicht allen Folgerungen zugestimmt hätten. Auch die Quelle spreche für die Echtheit.
Verbreitet hat ihn Wladimir Osechkin, der in Frankreich lebende Gründer der russischen Menschenrechtsorganisation gulagu.net. Er will ihn direkt von dem FSB-Mitarbeiter erhalten haben, der schon länger eine seiner Quelle sei. Er habe ihn unverändert veröffentlicht.
Geschäftsmann Osechkin hat die Organisation und Meldestelle für Übergriffe 2011 gegründet, nachdem er selbst aufgrund eines Komplotts in einem russischen Gefängnis gelandet war. Er hatte keine Bestechungsgelder zahlen wollen. Nun tritt er als Kämpfer gegen Folter und Korruption im russischen Strafvollzugssystem auf. Er suchte dabei in der Vergangenheit allerdings auch die Nähe zur Politik, leitete 2014 eine Arbeitsgruppe, die für die Staatsduma Reformen im Gefängniswesen erarbeiten sollte und kritisierte auch andere Organisationen wie Pussy Riot.
Nur Wladimir Osechkin weiss, wer den Bericht verfasst hat. Die Quelle habe in der Vergangenheit mehrfach Informationen etwa über Rücktritte weitergegeben, die erst später in russischen Medien zu finden gewesen seien. Die Quelle habe noch nie geflucht, diesmal schon.
Osechkin versucht die Glaubwürdigkeit auch mit einem Screenshot einer Mail seiner Quelle zu belegen. Name und Adresse des Absenders sind darin geschwärzt, das Datum ist aber sichtbar: Am 19. Februar warnte der Mann demnach davor, dass Russland in der Ukraine fingierte Proteste gegen angebliche Folter in ukrainischen Gefängnissen plane. Tatsächlich meldete ein Sprecher des ukrainischen Innenministeriums am 23. Februar, eine solche Demo mit nach seiner Darstellung bezahlten Teilnehmern sei frühzeitig aufgelöst worden.
Ich möchte so gerne daran glauben, dass der Bericht stimmt. Das einzige, was mich beunruhigt, ist ein in die Enge getriebener Putin. Da weiss man wirklich nicht, was als nächstes kommt. Alles scheint möglich…