Kiew versinkt im Dunkeln – Putins Stromkrieg ist diesmal anders
In der Nacht vom 7. auf den 8. November führte Russland einen der bisher schwersten Luftangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur durch. Getroffen wurde unter anderem das Wärmekraftwerk Trypillja südlich von Kiew, das erneut ausser Betrieb gesetzt wurde. Die Folgen für die Hauptstadt sind einschneidend: Laut den neuen Abschaltplänen folgen auf sieben Stunden ohne Strom nur drei bis vier Stunden mit Elektrizität.
Das Leben in Kiew hat sich über das Wochenende spürbar verändert – aber auch zuvor schon gab es Einschnitte bei Dingen, die nicht unmittelbar lebenswichtig sind. So trug der Fussballverein Obolon, der den gleichnamigen Stadtteil im Nordwesten der Stadt repräsentiert, sein Heimspiel in der höchsten Liga gegen Schytomyr aus.
Rund um das Stadion herrschte völlige Dunkelheit. Nur die Arena selbst wurde mit Generatoren betrieben. In der Halbzeitpause fiel selbst dort für einige Minuten das Licht aus. Der Grund: Der reguläre Strom war in Obolon gerade wieder verfügbar, und der Wechsel auf das Stadtstromnetz benötigt immer etwas Zeit. «Es ist ein surreales Gefühl, aber das ist unsere Realität», sagt Fussballfan Oleksandr, der sich über die 0:4-Heimniederlage ärgerte.
Seit Russland vor rund einem Monat erneut begonnen hat, gezielt die ukrainische Energieversorgung anzugreifen, gehören geplante Stromabschaltungen in Kiew wieder zum Alltag. Die bittere Ironie: Am 10. Oktober jährte sich zum dritten Mal der Tag, an dem Russland seine gezielten Angriffe auf die ukrainische Strominfrastruktur begann. Besonders in der Hauptstadt sind die Schäden diesmal erheblich. Nach offiziellen Angaben konnte Russland zwei der wichtigsten Wärmekraftwerke schwer beschädigen, eines davon soll sich gar in «kritischem Zustand» befinden.
Streit wegen der Luftabwehr
Wegen der Kiewer Kraftwerke ist zudem erneut ein offener Konflikt zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bürgermeister Vitali Klitschko entbrannt. Während es nahezu unmöglich ist, ein Kraftwerk gegen den direkten Treffer einer ballistischen Rakete zu schützen, könnten zusätzliche Betonbarrieren immerhin die Folgen von Drohnenangriffen abmildern. Aus dem Präsidialamt hiess es, in Kiew sei diesbezüglich «zu wenig getan» worden. Selenskyj selbst verzichtete an einer Pressekonferenz zwar auf namentliche Kritik, meinte jedoch vielsagend: «Ich will die Arbeit jener nicht kommentieren, die ohnehin nichts tun können.»
Einen Monat später deutet vieles darauf hin, dass sich der Fokus der russischen Angriffe nun zunehmend auf Kiew richtet – offenbar legt Russland derzeit grösseren Wert darauf, nicht die gesamte Ukraine lahmzulegen, sondern gezielt das Leben in der Drei-Millionen-Stadt zu treffen.
Von einem Kollaps ist die Hauptstadt zwar noch entfernt – zumal die vergleichsweise milden Temperaturen von durchschnittlich acht bis neun Grad den Bewohnern zugutekommen. Doch viele Haushalte verfügen kaum oder gar nicht über Heizung, obwohl die um zwei Wochen verschobene Heizsaison Ende Oktober offiziell begonnen hat.
«Kiew verfügte zu Beginn der Angriffe über ausreichende Energiekapazitäten, die Netze wurden renoviert», sagt der ehemalige Energieminister Iwan Platschkow gegenüber der Online-Zeitung «Telegraf». Doch die Sicherheitsreserven seien längst nicht mehr so hoch wie vor dem Krieg. Die getroffenen Kraftwerke seien zentrale Strom- und Wärmequellen. Man arbeite zwar an der Reparatur beschädigter Transformatoren und Anlagen, doch die Sicherheitsmarge bleibe gering. «Die Lage ist angespannt», so Platschkow.
Hälfte des Tages ohne Strom
Laut den meisten Experten muss Kiew in diesem Winter – je nach Witterung – damit rechnen, rund die Hälfte des Tages ohne Strom zu verbringen. Im schlimmsten Fall drohen sogar wochenlange Ausfälle, sollte Russland seine Angriffe in der bisherigen Intensität fortsetzen.
«Wir haben den harten Winter 2022/2023 überstanden, als wir hier einmal 72 Stunden keinen Strom hatten», erinnert sich Petro Kutscherenko, der in Kiew eine kleine Kette von Kaffeehäusern betreibt. Damals gab es weder Heizung noch Leitungswasser, zeitweise auch kein Mobilfunknetz. «Man passt sich an alles an. Wir sind mit Generatoren und Benzin vorbereitet, auch wenn es teuer ist. Man muss einfach weitermachen.»
Der Kiewer Maksym Krawez hat sich wie viele eine teure Powerstation angeschafft, mit der er bis zu zwölf Stunden Internet überbrücken kann. Freunden habe er dasselbe geraten – viele hätten die Warnungen aber auf die leichte Schulter genommen, weil die letzten beiden Winter weniger schlimm ausfielen als befürchtet. Nun steige das Interesse – und mit diesem die Preise. «Ich bin jedenfalls auf fast alles vorbereitet», sagt Krawez. «Das Einzige, was wirklich gar nicht geht, wäre ein kompletter Ausfall der Kanalisation.» Ob Russland auch das durch seinen Bombenterror erreichen kann, werde sich in den kommenden Wochen zeigen. (aargauerzeitung.ch)
