Die Ukraine habe nie eine «echte Staatlichkeit» gehabt, sagte der russische Präsident Wladimir Putin am 21. Februar. «Die heutige Ukraine ist ganz und gar von Russland erschaffen worden.» Faktisch ist die Ukraine jedoch 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten und seitdem ein unabhängiger, international anerkannter Nationalstaat – ebenso wie die 13 weiteren Ex-Sowjetrepubliken neben Russland und der Ukraine.
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Angesichts von Putins Aussagen verfolgt man dort den russischen Angriffskrieg besonders intensiv. Nicht wenige internationale Beobachter und Politiker vermuten, dass der Kremlchef seine Macht auf das ehemalige Sowjetgebiet ausdehnen will. Doch kann er damit Erfolg haben?
Anfang und Ende März stimmten die Vereinten Nationen mit überwältigenden Mehrheiten für Resolutionen, die den russischen Angriffskrieg verurteilen. Dabei ergab sich bei den Ex-Sowjetrepubliken ein Bild, das für Überraschung sorgte – am meisten wohl im Kreml:
Dass sich ein Grossteil der Nicht-EU- oder EU-nahen Länder enthalten hat, sei durchaus als Zeichen an Moskau zu verstehen, sagt Expertin Beate Eschment vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gegenüber t-online: «Vonseiten des Kremls wird starker Druck ausgeübt.» Trotzdem haben diese Länder sich für neutral erklärt. «Das frustriert Putin.»
Der russische Präsident habe durchaus mit der Unterstützung der zentralasiatischen Ex-Sowjetstaaten gerechnet, meint sie. Die Entscheidungen der Länder zeigten: «Putin macht Angst, aber er verliert an Einfluss.»
Deutlich wird das am Beispiel von Usbekistan – bei der UN-Abstimmung Anfang März noch abwesend, beim zweiten Mal enthielt sich der Vertreter. Bereits Ende Februar telefonierte Putin mit dem usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev. Der Kreml liess danach verlauten, Mirziyoyev habe Verständnis für die russische Politik geäussert. Die usbekische Pressestelle dementierte jedoch: Das Land nehme eine neutrale Position ein.
Später rückte das Land noch deutlicher von Russland ab: Mitte März sagte Aussenminister Abdulaziz Komilov im Parlament, Usbekistan erkenne die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine an. Die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk würden hingegen nicht anerkannt. «Die Militärhandlungen und Gewalt müssen sofort gestoppt werden», so Komilov. «Das waren klare Worte», findet auch Expertin Eschment.
Diese eindeutige Haltung überraschte – vor allem weil Usbekistan ebenso wie Tadschikistan und Kirgistan wirtschaftlich auf Russland angewiesen ist. Viele Bürger dieser Länder arbeiten in Russland, die Überweisungen zurück an die Familien in den jeweiligen Heimatländern machen einen grossen Teil der Wirtschaftsleistungen aus.
In Kirgistan äusserte man sich wohl deswegen etwas verhaltener: Medienberichten zufolge soll der Aussenminister für eine friedliche Lösung und das Einhalten aller UN-Prinzipien plädiert haben. Auch hier hatte der Kreml nach bilateralen Gesprächen von vermeintlich bekundeter Unterstützung gesprochen – doch von kirgisischer Seite war nur von einer Diskussion der «aktuellen Situation in der Ukraine» die Rede.
Auch Tadschikistan enthielt sich bei den Vereinten Nationen – offizielle Stellungnahmen gibt es von dort bisher jedoch nicht. In dem Land sind russische Truppen als Schutz vor den Terrorgruppen der Taliban und des sogenannten Islamischen Staats aus dem Nachbarland Afghanistan stationiert. Einige Beobachter vermuten, die Zurückhaltung entstehe aus der Befürchtung, die Schutzmacht könnte die Soldaten abziehen. Expertin Eschment hält das jedoch für unwahrscheinlich.
Über die Haltung Turkmenistans wisse man «gar nichts», so Eschment. Bei den UN-Abstimmungen zog sich das Land aus der Affäre, indem der Vertreter beide Male nicht anwesend war. «Aber die Bevölkerung Turkmenistans weiss aus der eigenen Presse noch nicht mal, dass es diesen Krieg oder die sogenannte Sonderoperation überhaupt gibt.»
Am heikelsten sei die Situation für Kasachstan, meint die Expertin. Für die anderen Ex-Sowjetrepubliken in Zentralasien habe der Konflikt nicht eine derart existentielle Bedeutung wie für Russlands südlichen Nachbarn.
Das Problem: Die Situation Kasachstans ist zumindest teilweise mit der der Ukraine vergleichbar. Es hat eine lange Grenze zu Russland und eine grosse russische Minderheit vor allem im Norden des Landes. «Daher wäre gerade der Norden Kasachstans für russische Nationalisten von Interesse», so Eschment. Schon 2014 soll Putin die Staatlichkeit Kasachstans infrage gestellt haben: «Die Kasachen hatten nie einen eigenen Staat.» Die Parallelen zur Ukraine drängen sich auf.
Trotzdem schien die Sorge vor einem russischen Einmarsch bis vor wenigen Wochen gering: Als im Januar Aufstände aufgrund hoher Energiepreise das Land erschütterten, bat Präsident Qassym-Schomart Toqajew die Truppen des russisch geführten Militärbündnisses OVKS um Hilfe. Putin schickte Soldaten – die Aufstände wurden niedergeschlagen, die Macht von Toqajew gesichert, die russischen Truppen rückten wieder ab.
Doch sorgte die Entscheidung für Überraschung, auch bei Expertin Eschment. «Es hat danach Vermutungen gegeben, dass Kasachstan dadurch ein Stück seiner Unabhängigkeit aufgebeben hat, weil der Präsident Kasachstans Putin jetzt zu Dank verpflichtet sei.» Aktuell scheine das aber keine Rolle mehr zu spielen, meint sie – im Gegenteil.
Mittlerweile scheint die russische Invasion in der Ukraine alte Befürchtungen zu wecken. Das zeigen Äusserungen von Präsident Toqajew am 1. März, wenige Tage nach dem russischen Einmarsch: «Unsere Haltung sollte von der entscheidenden Notwendigkeit ausgehen, die Sicherheit, Souveränität und territoriale Integrität unseres Staates zu gewährleisten», sagte Togajew einer Mitteilung der kasachischen Regierung zufolge. «Das heisst: Er schliesst einen russischen Angriff nicht aus», erklärt die Expertin.
Direkt an Russland und die Ukraine gerichtet appellierte Togajew, eine friedliche Lösung zu finden. «Ein schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg», so der Kasache.
Am Montag überraschte dann die Äusserung des stellvertretenden Aussenministers. Der «Welt» sagte Roman Vassilenko: «Wenn es einen neuen Eisernen Vorhang gibt, wollen wir nicht dahinter sein.» Interpretiert wurde dies als ein mögliches Abrücken von Russland – etwas zu vorschnell, meint Expertin Eschment: «Es ist keine anti-russische Äusserung gewesen.»
Sie hält eine andere Äusserung für entscheidender: «Alle Unternehmen mit gutem Ruf, die ihre Produktion hierher verlagern wollen, sind willkommen», sagte Vassilenko. Eine klare Einladung an westliche Investoren. Sie zeige, wie sehr die kasachische Wirtschaft unter den westlichen Sanktionen leide, obwohl diese eigentlich gegen Russland gerichtet sind. Zu eng seien die Systeme miteinander verflochten.
«Wenn der Rubel abstürzt, stürzt auch der Tenge (Währung Kasachstans, Anm. d. Redaktion) ab. Wenn die russische Wirtschaft in Schwierigkeiten gerät, gerät auch die kasachische Wirtschaft in Schwierigkeiten», fasst Eschment zusammen. «Wenn der stellvertretende Aussenminister westliche Investoren einlädt, ist das wie ein Rettungsring, den er versucht, für sein Land auszuwerfen.»
Die Entscheidung über eine Distanzierung zu Moskau wird so zur Gratwanderung für die Staaten, die eigentlich von Russland abhängig sind. Die Neutralitätserklärungen sind «ein Stück weit Überlebenswille», sagt die Zentralasien-Expertin. Einerseits habe man Angst Putin zu verärgern, andererseits wolle man seine Einmarsch-Politik nicht zu sehr unterstützen, aus Angst, das eigene Land könnte das nächste sein.
Zwar glaube sie nicht an einen Einmarsch: «In Zentralasien hat niemand vor, der Nato oder der EU beizutreten. Solange das so ist, würde er so weit wohl nicht gehen.» Dennoch: «Es ist die berühmte Wahl zwischen Pest und Cholera. Wie sie sich entscheiden, es bringt immer grosse Schwierigkeiten mit sich.»
Verwendete Quellen:
Und was ist mit den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken? Wenn sie Schutz - vor Russland - wollen, dann muss ihnen jemand diesen Schutz geben; z.B. China?
Putins Angriffskrieg war ein Riesenfehler. Hoffentlich sein letzter.
Denn der Westen will mit Putin nichts mehr zu tun haben. Warum auch? Ständig nur Probleme mit diesem Mann.
Sollte doch einem Putin zu denken geben...