Obwohl alle verfügbaren Indizien darauf hindeuten, dass Russland für die Zerstörung des Kachowka-Staudamms verantwortlich ist, beschuldigt der Kreml weiterhin die Ukraine, den Damm zerstört zu haben. Ob die genauen Hintergründe je aufgeklärt werden, scheint derzeit ungewiss.
Neben den unmittelbaren Folgen für Leib und Leben der Flutbetroffenen hat auch die bedeutende südukrainische Landwirtschaft mit der Flut und ihren Folgen zu kämpfen. Laut ukrainischen Angaben wurden gegen 10'000 Hektaren landwirtschaftlicher Anbaufläche überflutet.
Ob die überfluteten Flächen jemals wieder landwirtschaftlich genutzt werden können, ist fraglich. In den Fluten befanden sich laut ukrainischen Angaben zahlreiche Chemikalien.
Weil der Staudamm für die Wasserversorgung der gesamten Südukraine wichtig war, dürfte aber eine noch viel grössere landwirtschaftliche Fläche zumindest indirekt betroffen sein. Verschiedene Medien berichteten, dass über 500'000 Hektar ohne das Wasser nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden könnten. Sie drohen schon im kommenden Jahr zu Wüste zu werden.
Alex Lissitsa hält diese Einschätzung sogar noch für untertrieben. Der Agrarökonom ist Präsident der Vereinigung der ukrainischen Agrarwirtschaft und Geschäftsführer eines der grössten Landwirtschaftsunternehmen des Landes und sagt: «Ich gehe davon aus, dass direkt und indirekt gegen zwei Millionen Hektar betroffen sind.» Das entspricht etwa der Hälfte der Landesfläche der gesamten Schweiz. Der wirtschaftliche Schaden sei enorm, so Lissitsa.
Die Ukraine, und besonders ihr Süden, gilt wegen der dort besonders fruchtbaren Erde als Kornkammer Europas. Das Land produzierte vor dem Krieg zwischen 30 und 35 Millionen Tonnen Weizen jährlich, was sie zum weltweit sechstwichtigsten Getreideproduzenten machte. Ihre Produktion entsprach etwa zehn Prozent der Jahresweltproduktion.
«Heute sind es noch zwischen 16 und 17 Millionen Tonnen jährlich», so der Experte und betont die Bedeutung des Agrarsektors für die gesamte Wirtschaft der Ukraine. «Seine Rolle ist nicht zu unterschätzen.»
Was ein Ausfall der ukrainischen Exporte für den Weltmarkt bedeutet, wurde letztes Jahr sichtbar. «Nach Beginn des Krieges ist der Preis für eine Tonne Weizen von 220 auf 450 Euro hochgeschossen», erinnert sich Lissitsa.
Insbesondere in armen Ländern löste die Situation grosse Ängste vor Hungersnöten aus. «Die fehlenden Exporte aus der Ukraine waren eine globale Katastrophe», erklärt Lissitsa. Eine Beruhigung fand erst statt, als sich Russland und die Ukraine unter Vermittlung der Türkei in Ankara auf eine Exportregelung einigten.
Eine Regelung, die zeitlich befristet ist und über deren Verlängerung aktuell verhandelt wird. Kurz bevor sie Mitte Mai abgelaufen wäre, hat man sich auf eine zweimonatige Verlängerung geeinigt. Mitte Juli wird es also auslaufen, wenn es nicht noch einmal verlängert wird. Russland pokere sehr hoch und wolle die Situation als Druckmittel gegen die Ukraine und den Westen benutzen, sagt Lissitsa.
Das russische Vorgehen scheint Erfolg zu haben. Gemäss Medienberichten denkt die EU darüber nach, Russland Zugeständnisse zu machen, wenn es der Verlängerung zustimmt. Er habe kürzlich mit dem ukrainischen Landwirtschaftsminister gesprochen, so der Geschäftsführer. «Er hat mir bestätigt, dass sehr hart verhandelt wird, wollte sich aber nicht zu Details äussern.»
Noch wichtiger als beim Weizen ist die Ukraine als Exporteur von Mais und insbesondere Sonnenblumenöl. 40 Prozent der globalen Jahresproduktion an Sonnenblumenöl stammten vor dem Krieg aus der Ukraine.
Besonders beim Sonnenblumenöl dürfte es laut Lissitsa in den kommenden Jahren zu einer globalen Knappheit kommen, und zwar unabhängig davon, wie die aktuellen Verhandlungen mit Russland über die Exporte enden. «Längerfristig ist davon auszugehen, dass in den Gebieten, die direkt oder indirekt von der Überflutung betroffen sind, noch über Jahre hinaus keine Landwirtschaft möglich sein wird», sagt der Agrarexperte.
Dazu kommt, dass der Fluss Dnipro als wichtigster Exportweg noch lange nicht so nutzbar sein wird wie vor dem Krieg. Lissitsa: «Ich gehe davon aus, dass die landwirtschaftlichen Folgen der Überschwemmung aber auch des Krieges bis zu einem Jahrzehnt spürbar sein werden.»
(aargauerzeitung.ch)
Wer glaubt, die Ukrainer hätten sich selber derart ins Knie geschossen und den Damm gesprengt, hat Schwierigkeiten mit logischem Denken.