Militärärzte in Russland schlagen Alarm: Die Zahl der HIV-infizierten russischen Soldaten steigt rasant. Im Herbst 2022 stieg sie noch um das Fünffache, Ende 2022 um das 13-Fache – und Anfang 2023 gab es einen Spitzenanstieg der registrierten Fälle um mehr als das 40-Fache.
Danach hat sich das Wachstum verlangsamt, aber im Vergleich zu den Vorkriegszahlen ist die Zahl der Erkrankten immer noch hoch. Dies geht aus einem Artikel in der Zeitschrift der Russischen Militärmedizinischen Akademie hervor.
Gleichzeitig weisen die Autoren des Artikels darauf hin, dass die Zunahme von HIV-Infizierten in der russischen Armee in erster Linie auf die im September 2022 angekündigte Teilmobilisierung zurückzuführen ist. Im Jahr 2023 sind die beim Militär mit HIV diagnostizierten Personen mit grosser Mehrheit Vertragssoldaten. 93,5 Prozent der Betroffenen sind normale Soldaten und Matrosen, 4,4 Prozent Offiziere.
Das russische Verteidigungsministerium hat daraufhin im Juni 2023 einen Befehl veröffentlicht, der die Rekrutierung von Personen mit einer bestätigten HIV-Diagnose für den Krieg in der Ukraine verbietet. Trotzdem haben die Fälle von HIV-Infektionen unter russischen Soldaten zugenommen.
Laut dem russischen Abgeordneten Maxim Iwanow wurde im Herbst 2022 ein Mann mit schwerem HIV mobilisiert. Damals legte er medizinische Unterlagen vor und wurde als dienstuntauglich heimgeschickt. Fast zwei Jahre später erhielt er ein Schreiben des Verteidigungsministeriums, in dem er als Deserteur bezeichnet und aufgefordert wurde, unverzüglich an die Front zurückzukehren.
«Er wird in ein Flugzeug gesetzt und in den Krieg geschickt, wo er seine Kameraden mit seinem Blut anstecken kann. Wir werden uns an die Militärstaatsanwaltschaft wenden», schrieb der Abgeordnete.
Ein weiterer Grund, warum sich HIV unter russischen Soldaten verbreitet, ist Korruption. Da ein Soldat nach Vertragsunterzeichnung eine Einmalzahlung von umgerechnet rund 3600 Schweizer Franken erhält, gibt es viele willige Bewerber, die fiktive Dokumente mit einem negativen Testergebnis vorlegen. Die Autoren des Artikels geben die Zahl dieser Fälle nicht an, stellen aber fest, dass mehr als 60 Prozent der neu eingestellten Vertragsbediensteten zuvor in AIDS-Zentren registriert worden waren.
In der russischen Armee wird HIV am häufigsten nicht durch homosexuellen Geschlechtsverkehr verbreitet, sondern durch Verstösse gegen die Sauberkeitsregeln bei der medizinischen Versorgung und den Einsatz von nicht sterilen Instrumenten. Dies kann zum Beispiel durch die wiederholte Verwendung einer einzigen Spritze geschehen.
Zuvor hatte die Wagner-Gruppe aktiv Menschen mit nachgewiesenem HIV aus den Gefängnissen rekrutiert. Jewgeni Prigoschin schuf daraufhin eine Sondereinheit namens «Umbrella», in die Menschen mit HIV, Aids, Syphilis und Hepatitis aufgenommen wurden.
Um zu verhindern, dass andere Soldaten mit ihnen in Kontakt kamen, erhielten die Umbrella-Soldaten weisse und rote Armbänder. In der Regel starben viele von ihnen bei sogenannten «Fleischangriffen». Dabei werden grosse Mengen an Soldaten, oft schlecht ausgerüstet und ohne ausreichende Unterstützung, in Angriffswellen gegen stark verteidigte Stellungen geschickt. Der ukrainische Geheimdienst schätzt, dass etwa 20 Prozent der aus den Hochsicherheitsgefängnissen rekrutierten russischen Soldaten mit HIV infiziert waren.
Wie viele Soldaten infiziert sind, geben die russischen Behörden offiziell nicht bekannt. Nach Schätzungen von unabhängigen Journalisten rekrutierte die Wagner-Gruppe indes über 48'000 Personen in den mehr als 200 Strafkolonien für den Krieg in der Ukraine. Wenn die Schätzung des ukrainischen Geheimdienstes stimmt, über die auch die «New York Times» berichtete, dann schickte das russische Militär bislang mindestens 9600 Infizierte in die Ukraine.
Diese stecken sich allerdings nicht nur gegenseitig an, sondern auch Menschen in den besetzten Gebieten. Den Autoren des russischen Berichts zufolge hat die Zahl der HIV-Infektionen im Gebiet Cherson, das zum Teil von der russischen Armee kontrolliert wird, zuletzt zugenommen. Infolge des Krieges gingen die Krankenversicherungskarten vieler Menschen verloren, und aufgrund der Bevölkerungsmigration wurden die Menschen nicht mit entsprechenden Medikamenten versorgt.
Auch die HIV-Tests wurden faktisch eingestellt; diese Untersuchung wurde nur noch bei schwangeren Frauen mithilfe von Schnelltests durchgeführt. Infolgedessen werden in der Region Cherson bei ordnungsgemässer Durchführung von Tests voraussichtlich mehrere Jahre lang jährlich 1000 oder mehr HIV-Fälle entdeckt werden, schreiben die Autoren der Recherche.
Zuvor hatten ukrainische Frauen in einem Dokumentarfilm des «Kyiv Independent» von zahlreichen Vergewaltigungen durch russische Soldaten berichtet. Eines der Opfer, Marina, versteckte sich in dem Dorf Krasnowka in der Region Cherson, aber russische Soldaten fanden sie dort.
Sie schlugen und verhörten die Dorfbewohner. Einige Tage später begann ein betrunkener Soldat, sie nach dem Alter der Frauen und Mädchen zu fragen, die mit ihr im selben Haus wohnten. Er brachte ihre Mutter kurzzeitig in ein anderes Zimmer und kam später zurück, um Marina zu holen, nahm sie mit und vergewaltigte sie.