25.01.2022, 19:5327.01.2022, 03:54
Besorgt schaut die Welt nach Osteuropa: Russland zieht Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen, eine Eskalation scheint nur eine Frage der Zeit. Diplomatische Versuche, die Situation zu entschärfen, haben bisher wenig gefruchtet. Sollten die russischen Truppen tatsächlich angreifen, dann könnte eines der folgenden Szenarien eintreten.
Die Ausgangslage

Gestreift: von Russland besetzte (Krim) oder von Rebellen kontrollierte Gebiete (Teile von Luhansk und Donezk im Donbass) der Ukraine.Karte: watson
- 2014 gelang es bewaffneten Separatisten mit Hilfe von Russland, das Regionalparlament der Krim zu besetzen. Zuerst erfolgte die Gründung der Republik Krim, danach deren Eingliederung in Russland. Der Vorgang ist international nicht anerkannt und die Krim gilt weiterhin als Teil des Staatsgebiets der Ukraine. Mit zwischen 50 und 60 Prozent Bevölkerungsanteil bilden die Russen dort die Mehrheit.
- Teile der östlichen Oblaste (Verwaltungsbezirke) Luhansk und Donezk im Kohlerevier Donbass – beide umfassen jeweils etwas mehr als die halbe Fläche der Schweiz – werden aktuell von Rebellen kontrolliert, die von Russland unterstützt werden. Russen bilden in diesen Rebellengebieten die Mehrheit der Bevölkerung – nicht aber in den beiden Oblasten insgesamt. Sowohl in Luhansk wie auch in Donezk wurden bereits eigenständige Volksrepubliken ausgerufen – beide werden international nicht anerkannt.
Russlands Truppen rund um die Ukraine

Die roten Punkte markieren rund um die Ukraine stationierte russische Truppen laut «BBC» und «New York Times». Über die Verbände in Belarus existieren aktuell keine genaueren Informationen. Je grösser der Punkt, desto zahlreicher die Truppen. 100'000 bis 130'000 russische Soldaten sollen aktuell nahe den ukrainischen Grenzen stationiert sein. Karte: watson
- Seit einigen Jahren zieht Russland immer mehr Truppen rund um die Ukraine zusammen. In den letzten Wochen hat Russland zusätzlich Reservisten mobilisiert sowie Truppen und Lenkwaffen aus anderen Gebieten an die ukrainische Grenze verlegt.
- Auch im Nachbarland Belarus, dessen Diktator Alexander Lukaschenko einen prorussischen Kurs verfolgt, sind russische Truppen stationiert. Angeblich wollen Russland und Belarus im Februar gemeinsame Manöver durchführen.
- Auf der Halbinsel Krim sind ebenfalls russische Boden-Truppen stationiert.
Mögliche Angriffs-Szenarien
Einnahme der östlichen Oblaste

Karte: watson
- Bereits heute befinden sich die beiden grössten Städte der östlichen Oblaste – Donezk und Luhansk – in der Gewalt prorussischer Separatisten.
- Russland könnte die beiden Oblaste vollständig besetzen und sie danach – beziehungsweise die beiden schon auf deren Gebiet existierenden Volksrepubliken – als eigenständige Staaten anerkennen, ähnlich dem Schicksal von Südossetien und Abchasien 2008 im Kaukasuskrieg. Diese beiden Regionen sind heute nur von fünf Staaten anerkannt – obwohl Georgien keinen Einfluss mehr auf die Gebiete ausüben kann.
- Ob sich Moskau damit zufrieden gibt, ist fraglich.
Errichtung einer Landbrücke zur Krim

Karte: watson
- Um eine Landverbindung zur Krim zu gewinnen, müssten die russischen Truppen rund 300 Kilometer ukrainische Küste entlang des Asowschen Meeres mit der wichtigen Hafenstadt Mariupol besetzen, inklusive eines breiten Streifens des Hinterlands. Vermutlich würde bei einem solchen Vorstoss auch das Gebiet zwischen der Landenge von Perekop, der Landverbindung zur Halbinsel Krim, und der Mündung des Dnjepr weiter westlich besetzt, um den Zugang zur Krim abzusichern.
- Die derzeit an der Grenze zur Ukraine stationierten russischen Truppen würden für einen solchen Angriff wohl ausreichen.
- Hingegen ist es fraglich, ob eine Annäherung der Ukraine an den Westen durch die Besetzung eines Gebiets im Süden des Landes verhindert werden könnte – im Gegenteil. Zudem wären die Folgekosten für Russland sehr hoch.
Luftschläge und Cyber-War

Karte: watson
- Um die Ukraine sehr empfindlich zu treffen und ihre militärische Infrastruktur massiv zu dezimieren, könnte Russland ohne Bodentruppen angreifen und sich auf Luftschläge seiner überlegenen Luftwaffe beschränken – ähnlich wie der Luft-Boden-Krieg, den die NATO 1999 während der Operation «Allied Force» gegen Serbien führte.
- Zentrale Versorgungsadern für Strom, Wasser und den Güter- und Personenverkehr könnten dadurch lahmgelegt werden.
- Gleichzeitig könnten Cyberattacken stattfinden, ähnlich wie diejenigen in den Jahren 2015/2016, welche die ukrainische Stromversorgung trafen.
- Solche massiven Angriffe könnten die ukrainische Regierung dazu zwingen, sich den russischen Forderungen zu beugen. Für Russland wäre diese Option auch deshalb vorteilhaft, weil dabei keine russischen Bodentruppen eingesetzt werden müssten. Dies reduziert die Gefahr von hohen Verlusten, die wiederum die Unterstützung für das militärische Vorgehen in der russischen Bevölkerung gefährden könnten.
- Luftangriffe allein könnten möglicherweise nicht ausreichen, um die russischen Ziele zu erreichen. Sie könnten daher am Ende doch zu einem Bodenkrieg führen.
«Thunder Run»

Karte: watson
- Das Ziel eines solchen Angriffs ist nicht territorialer Gewinn, sondern ein schnelles und tiefes Vorrücken an einem schmalen Frontabschnitt. Der Gegner soll dadurch empfindlich getroffen, demoralisiert und eingeschüchtert werden.
- Ein schneller Angriff von Norden her – von belarussischem Territorium aus –, eventuell begleitet von einem nach Westen gerichteten Vorstoss aus dem russisch-ukrainischen Grenzgebiet, könnte dazu führen, dass die ukrainische Hauptstadt Kiew von mehreren Seiten eingeschlossen würde.
- Eine ukrainische Regierung in einem belagerten Kiew – zumal mit russischen Raketenstellungen in Reichweite der Hauptstadt – könnte ihre Kontrolle über das Land einbüssen und eventuell sogar kollabieren. Derartige Auflösungstendenzen könnten russische Spezialeinheiten im Verbund mit Desinformationskampagnen zusätzlich verschärfen.
- Dieses Szenario verlangt ein sehr präzises, koordiniertes und schnelles Vorgehen der russischen Infanterie, Panzerverbände und Luftwaffe – was die russische Armee in dieser Art seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr unternommen hat. Zudem ist schwierig abzuschätzen, wie effektiv sich die ukrainischen Truppen dagegen zur Wehr setzen könnten. Wie der preussische Generalfeldmarschall von Moltke einst bemerkte: «Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.»
Zangenangriff

Karte: watson
- Ein russischer Zangenangriff aus drei Richtungen würde die ukrainische Armee in einen Mehrfrontenkrieg verwickeln, in dem ihre numerische und qualitative Unterlegenheit vermutlich deutlich zutage treten würde.
- Die russischen Bodentruppen sind besonders im Norden konzentriert – am Dreiländereck zwischen der Ukraine, Belarus und Russland, nordöstlich von Kiew. Weitere Vorstösse könnten aus dem Gebiet des Donbass im Osten der Ukraine erfolgen. Zudem kontrolliert Russland nach wie vor die Krim und hat im Schwarzen Meer Landungstruppen zusammengezogen. Auch von Süden her muss also mit einem Vorstoss gerechnet werden, was die ukrainische Armee dazu zwingt, sich zu verteilen.
- Die Ukraine ist allerdings der zweitgrösste Flächenstaat Europas nach Russland und hat über 40 Millionen Einwohner. Mehr als 300'000 Ukrainer haben seit 2014 in irgendeiner Form Kampferfahrung gesammelt. Die ukrainische Armee ist zudem nach den Ereignissen in der Krim und im Donbass modernisiert und erweitert worden.
- Falls Russland ukrainisches Gebiet längerfristig besetzt halten möchte, wird dies zum einen sehr kostspielig sein und zum andern auf erheblichen ukrainischen Widerstand stossen. Sollten sich die Kampfhandlungen in die Länge ziehen und die russischen Verluste steigen, könnte dies am Ende Russland selber destabilisieren – wie es der Afghanistankrieg mit der Sowjetunion tat.
(tog/dhr)
Das wahre Gesicht des Krieges in der Ukraine
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Das wahre Gesicht des Krieges in der Ukraine
Ein Pro-russischer Soldat zwischen den Trümmern des Flughafens Donezk wo die erbittertsten Kämpfe stattgefunden haben.
quelle: epa/epa / luca piergiovanni
Eines der grössten Munitionsdepots der Ukraine in Brand
Video: srf
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