Noch im April war es auf der ukrainischen Seite der Front verdächtig ruhig gewesen. Nicht weil plötzlich Frieden ausgebrochen wäre, sondern weil es kaum noch Munition für die Geschütze der Verteidiger gab. Dass die russische Artillerie mehr schiesst als die ukrainische, daran haben sich die Menschen im Osten des Landes längst gewöhnt. Doch ein so krasses Missverhältnis wie damals gab es wohl noch nie in diesem Krieg.
Das hat sich nun geändert. Fast pausenlos feuern die Ukrainer auf die Stellungen der Invasoren im Oblast Donezk – tagsüber und auch nachts. Die Freigabe eines grossen Hilfspakets durch den US-Kongress und die tschechische Munitionsinitiative haben den Mangel gelindert. Die von Tschechien gestartete Aktion ist eine Art Einkaufstour auf dem Weltmarkt, die der Ukraine am Ende Hunderttausende Artilleriegranaten bescheren soll.
Ganz aus dem Schneider sind Kiews Streitkräfte aber nicht. Nach wie vor liegt die Initiative bei den Russen. Sie rücken immer noch vor, wenn auch nur langsam. Ein Augenschein in der Region des wichtigen Verkehrsknotenpunkts Prokowsk lässt vermuten, dass die russische Hauptstossrichtung hier im Donbass liegt und nicht weiter nördlich bei der Millionenstadt Charkiw, wo Moskaus jüngste Offensive kläglich gescheitert ist.
Die Gegend bei der Ortschaft Losuwatske, rund 35 Kilometer östlich von Pokrowsk, ist weitgehend flach und die Sichtweite deshalb beschränkt. Mit einem Soldaten als Führer fahren wir in Richtung Front – das letzte Stück auf einer holprigen Piste entlang einer Eisenbahnlinie. Wir haben Glück, es ist Mittagszeit, und die russischen Drohnenpiloten scheinen gerade Pause zu machen.
Bei der vorletzten Stellung der Ukrainer verstecken wir den Geländewagen in einem Waldstück und gehen zu Fuss weiter. In einem breiten, aber kurzen Graben, in dem die Soldaten manchmal grössere Fahrzeuge oder Panzer parken, legen wir einen Halt ein.
Durch das Fernglas sind der Schornstein und das zerschossene Dach einer Ziegelei zu sehen. Die Fabrik haben die Russen Anfang Mai erobert, und dabei hätten sie um ein Haar einen Durchbruch erzielt. Die ukrainische Verteidigung war schlecht koordiniert, es kam zu einem blitzartigen Vorstoss, die Ziegelei und die kleine Stadt Otscheretine fielen in die Hand der Invasoren.
Weil die Russen grösstenteils zu Fuss unterwegs waren, konnten sie ihren Erfolg aber nicht in einen grossen Durchbruch ummünzen. Bei der russischen Armee scheint der Mangel an gepanzerten und ungepanzerten Fahrzeugen immer schlimmer zu werden.
Dennoch gelang es, unter anderem der Eisenbahnlinie entlang vorzurücken, unterstützt durch Artillerie und Kampfdrohnen. Den Russen fehlen jetzt nur noch etwa sechs Kilometer bis zur Strasse, die Pokrowsk mit der wichtigen ukrainischen Basis in Konstantinowka verbindet.
Selbst wenn es den Russen gelänge, diese Nachschubachse zu kappen, wäre das noch nicht das Ende der Geschichte. Denn von Norden her führt eine zweite breite Teerstrasse in das Gebiet, auf der die Ukrainer Kriegsgerät in die seit Monaten heftig umkämpfte Kleinstadt Tschassiv Jar bringen. Weil Putins Truppen dort nicht weiterkommen, haben sie eine neue Offensive gestartet, rund 20 Kilometer weiter südlich, mit Zwischenziel bei der gut befestigten Bergbaustadt Toretsk.
Doch nochmals zurück in die Umgebung der gefallenen Ortschaft Otscheretine mit der zerstörten Ziegelei: Ukrainische Kämpfer, die sich in Waldstücken zu beiden Seiten der Bahntrassen eingegraben und versteckt haben, geben zu, dass es ihnen an Männern mangle.
Besonders schlimm sei das Fehlen gut ausgebildeter Spezialisten, die schwere Waffen unter Kampfbedingungen bedienen könnten. Man sieht kaum Uniformierte, die weniger als 30 Jahre alt sind. Das Durchschnittsalter der Frontsoldaten liegt bei weit über 40 Jahren.
Bei einigen Einheiten wird die Personalknappheit durch den Einsatz von freigelassenen Strafgefangenen gelindert. Hunderte von ihnen sind bereits an der Front. Ein Kommandant, der anonym bleiben möchte, erzählt, dass die Erfahrungen bisher gut seien.
Die freigelassenen Gefangenen dienen in normalen Einheiten und erhalten denselben Sold wie die anderen Soldaten. Ein Jahr in den Streitkräften reduziert die Haftdauer um drei Jahre.
Ganz anders sieht es bei den eingezogenen Männern aus. Seit kurzem beginnt die Wehrpflicht bei Männern neu mit 25 Jahren. Wer in der Hauptstadt Kiew am Abend mit der U-Bahn unterwegs ist, wird Waggons voller junger Männer sehen – alle unter 25 Jahren. Die Wehrpflichtigen bleiben zu Hause, sie wollen sich nicht dem Risiko aussetzen, von Sicherheitskräften kontrolliert und gleich in die Armee eingezogen zu werden.
Der namenlose Kommandant sagt dazu, dass die meisten Wehrpflichtigen an der Front am liebsten davonlaufen würden. Nur wenige von ihnen seien brauchbar. Viele würden lieber in rückwärtigen Einheiten dienen, in der Logistik oder an Strassensperren – einfach Aufgaben, die bessere Überlebenschancen bieten und weniger physische und psychische Belastung bedeuten. Darin unterscheidet sich die vergleichsweise riesige ukrainische Armee kaum von jener Israels: Beiden Ländern fehlt es an Menschen, die zu kämpfen bereit und fähig sind.
(aargauerzeitung.ch)