In der Dunkelheit der Nacht schlagen sie zu. Dann steigen sie in ihren Froschanzügen aus dem kalten Wasser und zerstören Putins Verteidigung: die Kampftaucher einer Spezialeinheit der ukrainischen Armee.
Sie schwimmen in Vierergruppen durch Flüsse oder die Fluten des Schwarzen Meeres und verüben Sabotageakte, zum Teil weit hinter den feindlichen Linien.
Untereinander sind sie nur durch eine Leine verbunden, mit deren Hilfe sie unter Wasser kommunizieren. Und sie sind mit modernsten Atemgeräten ausgestattet, damit aufsteigende Luftblasen sie nicht verraten.
Bislang war kaum etwas über die militärische Spezialeinheit bekannt. Nun treten die Mitglieder des 73. Naval Special Operations Centre erstmals ins Licht der Öffentlichkeit, allerdings anonym, um ihr Leben nicht zu gefährden.
Es sind hochkomplexe und gefährliche Missionen, denen die Kampftaucher und Kampftaucherinnen der ukrainischen Armee nachgehen. Doch ihre Einsätze können den Frontverlauf entscheidend verändern.
«Unsere Taucher dringen mit Booten verdeckt in feindliche Gebiete ein, tauchen, nähern sich der Küste, führen Aufklärungen durch, räumen Minen, landen und führen Spezialoperationen durch», sagte der junge Kommandant eines der Taucherteams der britischen «Times».
Sie sind das ukrainische Äquivalent zu den amerikanischen Navy Seals oder dem britischen Special Boat Service. Ihre Aufgabe besteht darin, eine Welle der Zerstörung zu entfesseln und Chaos und Verunsicherung unter den russischen Streitkräften zu entfachen.
Schon seit 2014, als russische Truppen auf der Krim einfielen, kämpft die Ukraine auch zu Wasser. Spätestens seit der umfassenden Invasion von Wladimir Putins Truppen im Nachbarland im Frühjahr 2022 zählen die grossen Flüsse im östlichen und südlichen Teil der Ukraine, aber auch das strategisch bedeutsame Schwarze Meer zu den am härtesten umkämpften Gebieten.
Oft verläuft die Front direkt an einem der Flüsse, etwa am Dnipro, wo sich ukrainische und russische Truppen über viele Kilometer Länge gegenüberstehen.
Ausgebildet wurden die ukrainischen Kampftaucher von britischen und US-amerikanischen Spezialkräften, ausgerüstet sind sie mit der neuesten Technologie für ihre Missionen. Die erlaubt es ihnen, im Wasser praktisch unsichtbar zu werden. Die Russen sehen sie nie kommen, sagen sie der «Times». Das wäre auch schlecht, denn sonst wären sie vermutlich längst tot.
Allerdings hilft unter Wasser und bei Nacht auch die modernste Ausrüstung nicht immer weiter, deshalb verlassen sie sich auf ganz konventionelle Hilfsmittel: Kompass, Uhr, Tiefenmesser und Kopfrechnen, um Entfernungen und Luftvorräte richtig einzuschätzen, diese Hilfsmittel sind ihre Lebensversicherung.
Die britischen Spezialkräfte haben ihren ukrainischen Kollegen während einer sechs Monate dauernden Kompakt-Ausbildung beigebracht, wie sie mithilfe von Unterwasser-Drohnen die russischen Verteidigungsvorrichtungen unter Wasser zerstören.
Vor allem Seeminen machen der Ukraine zu schaffen. Seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Truppen von Russlands Machthaber Wladimir Putin und der damit verbundenen Besetzung des Schwarzen Meeres wimmelt es in den Gewässern rund um die ukrainische Küste nur so von Sprengstoffvorrichtungen. Damit die Ukraine die Seewege im Schwarzen Meer nutzen kann, müssen die Minen im Wasser geräumt werden.
«Das Schwarze Meer ist derzeit eines der gefährlichsten Gewässer der Welt», sagte Dmitro Kowalenko, ein Kommandant der ukrainischen Marine.
Wie schwierig die Minenräumung im Wasser ist, zeigt die Tatsache, dass sich manche der schwimmenden Sprengkörper mit unbemannten Unterwasserdrohnen nicht entschärfen lassen. Sie können nur von Spezialtauchern neutralisiert werden.
Dafür wurde die amphibische Spezialeinheit der ukrainischen Marine ausgebildet. Sie wollen die russische Küstenverteidigung schwächen und Putins Truppen aus ukrainischen Hoheitsgewässern vertreiben.
Vom Erfolg der ukrainischen Spezialeinheit zeugen nicht nur die zahlreichen Angriffe auf russische Kriegsschiffe, bei denen es gelang, einen wesentlichen Teil von Putins Schwarzmeerflotte zu vernichten und die russische Marine zu zwingen, ihre Kontingente zu verlegen.
Als ukrainische Spezialeinheiten die Russen am 30. Juni 2022, vier Monate nach der Invasion, von der Schlangeninsel vertrieben, sicherten sie dem Land einen Korridor für den Getreideexport aus dem Hafen von Odessa.
“In preparing our missions, we go through all the ‘what if’ scenarios,” says Alex. “What if the boat breaks down? What if the weapon fails? What if the explosives fail or half are lost? We talk through whatever we can imagine will go wrong. If we can, we continue the mission.”/11 pic.twitter.com/RLH7nNTl9k
— Maxim Tucker (@MaxRTucker) September 15, 2024
Im September 2023 hat die Ukraine die Kontrolle über eine Reihe von Ölplattformen übernommen, die heute als Ausgangspunkt für Angriffe auf russische Ziele auf der Krim dienen. Die Räumung der Kinburn-Halbinsel und der Tendra-Nehrung durch die Russen war ebenfalls von entscheidender Bedeutung für die Freigabe des zweitgrössten ukrainischen Seehafens, Mykolajiw.
Wie riskant die Einsätze der Taucher sind, erzählt Alex der «Times». So seien sie einmal in einer Vierergruppe losgeschwommen, allerdings mussten zwei ihrer Kollegen umdrehen. Die anderen beiden schwammen weiter und stiessen bald auf ein ganzes Bataillon russischer Truppen. «Mindestens 500 Soldaten», wie Alex sagt.
Das Ziel ihrer Mission war es, ein gepanzertes russisches Flugabwehrsystem vom Typ ZSU-23-4 Shilka mit Selbstantrieb auszuschalten. Das System war für die Russen von strategischer Bedeutung.
Für die beiden ukrainischen Spezialisten ging es darum, auf feindlichem Terrain nicht entdeckt zu werden. Hätte jemand Alarm ausgelöst, wären sie gefangen genommen oder getötet worden. Alex erklärt:
Doch sie konnten ihren Auftrag erfüllen, einen Sprengsatz mit Fernzünder an dem Flugabwehrsystem installieren und unentdeckt wieder verschwinden: «Wir sahen, wie das Fahrzeug in die Luft flog und auch die Munition, die darin war. In dem Fahrzeug befand sich eine Besatzung, die eine Schicht transportierte, die Truppen in ihre Stellungen bringen sollte. Wir haben wahrscheinlich acht bis zehn Russen getötet».
Die Russen seien fassungslos gewesen. So weit von der Frontlinie entfernt konnten sie sich nicht vorstellen, dass sie von ukrainischen Truppen angegriffen wurden.
Alex erzählt:
Dass die ukrainischen Kampftaucher ihre Einsätze häufig erfolgreich abschliessen, liegt auch an ihrer harten Ausbildung. Die orientiert sich an den gleichen Programmen, wie sie auch die amerikanischen Navy Seals absolvieren müssen.
Es sind ultraharte Trainings, sogenannte «Q-Kurse», die darauf abzielen, die widerstandsfähigsten Bewerber auszusieben. Die angehenden Marines müssen dabei extreme körperliche Anstrengung, Schlafmangel und Hunger überstehen. Wer aufgibt, fliegt raus.
Auch eine Frau gehört zur ukrainischen Kampftauchereinheit. Sie war eine der ersten in der ukrainischen Armee, die den berüchtigten «Q-Kurs» bestand. Dann schloss sie sich den Tauchern an, stieg dort schnell auf und ist inzwischen Kommandantin einer Einheit.
Seitdem hat sie an einigen der heftigsten Gefechte des Krieges teilgenommen, darunter die Gegenoffensive in Saporischschja. Bei ihrem letzten Einsatz befehligte sie ein Team, das eine russische Schnelleingreiftruppe auf der Kinburn-Halbinsel in einen Hinterhalt lockte.
Sie sei stolz auf ihre Arbeit, aber sie wisse, dass der Tod immer mitschwimme. «Wir kämpfen jetzt seit zweieinhalb Jahren zusammen», sagte sie der «Times».
Erst im Februar 2024 geriet eine amphibische Spezialeinheit der ukrainischen Marine bei dem Versuch, in kleinen Schnellbooten auf der Tendra-Nehrung zu landen, in einen Hinterhalt. Russische Truppen töteten mehrere der Kampftaucher und nahmen einen gefangen.
(t-online/dsc)