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John Fetterman: Der Senats-Kandidat mit den Mords-Tattoos

Zu Besuch bei John Fetterman – der US-Senats-Kandidat mit den Mords-Tattoos

Abseits von Blitzlichtgewitter und Glamour zog unser Autor vier Tage durch Pennsylvania, um die Witterung des Midterm-Wahlkampfs aufzunehmen. In Braddock traf er auf den demokratischen Kandidaten Fetterman – und dessen Frau.
17.10.2022, 11:5518.10.2022, 15:32
Johann Aeschlimann, Braddock/Pennsylvania
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Donnerstag, kurz nach 11 Uhr. Vor dem Free Store stehen die Frauen Schlange und warten auf Einlass. Die grauhaarige Phyllis, schlecht zu Fuss, steht am Gatter und lässt ein, sobald es Raum gibt. Hinter ihr die Laube mit Regalen voller Kleider, etwas Küchenzeug, Plastikbehälter voller Salat, innen auf engem Raum noch mehr Regale, Regale mit Windeln, Kisten voller Schuhe. Auf dem Parkplatz nebenan fahren Autos vor und laden Ware ab: Alte Kleider, altes Küchenzeug, ein paar Möbel. Alles gratis. Auf der Tafel mit den Spielregeln steht: «Nimm nur, was du brauchst.»

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bild: johann aeschlimann

Der Free Store, dreimal pro Woche zwei Stunden geöffnet, ist ein ausgemusterter blauer Container auf einem Parkplatz in Braddock/Pennsylvania. Und Braddock, Vorort von Pittsburgh am Monongahela River, ist seit der Schrumpfung der amerikanischen Stahlindustrie in den 1980er-Jahren ein permanenter Sanierungsfall.

Es gibt hier kein Restaurant, keine Tankstelle, keinen Coffee-Shop. Der einzige Laden ist ein Dollar Store, in dem du süsse Soda-Plörren, aber kein Fläschchen Trinkwasser kaufen kannst. Das Edgar-Thomson-Stahlwerk arbeitet noch, aber die Gebäude an der Braddock Avenue davor sind mehrheitlich Ruinen. Braddock ist arm. Deshalb ist der Free Store gratis. «Wir bedienen jede Stunde 100 Familien», sagt Gisele Barreto Fetterman, die Chefin des Ladens. «Seit 10 Jahren». Sie hat das Konzept erfunden. Mittlerweile ist es eine eingetragene Marke und an vierzehn weiteren Orten aktiv. Alle arbeiteten freiwillig, sagt Frau Fetterman. «Wir verdienen kein Geld.»

Gisele Barreto Fetterman (r.) mit einer Kollegin in ihrem Free Store.
Gisele Barreto Fetterman (r.) mit einer Kollegin in ihrem Free Store.bild: johann aeschlimann

Phyllis am Gatter hat sich hingesetzt, als ein kleiner Junge auf sie zurennt: «My Boy!» Der Bub schmiegt sich an. «Warum bist du nicht in der Schule?» Der Bub flüstert ihr zu, er sei vor die Türe gestellt worden. «Warum hast du dem anderen Kind gesagt, es soll den Mund halten? Das ist die Aufgabe der Lehrer.» Von hinten ruft die Mutter: «Mir hat er gesagt, sie hätten Pause.» Man lacht. Der kleine Fitzgerald rennt wieder davon. «Wenigstens war er ehrlich», ruft Phyllis in die Runde. Sie ist mit dem kleinen Fitzgerald nicht verwandt. «Man lernt sich hier kennen», sagt sie. Der Free Store ist mehr als eine Suppenküche.

Freitag, 17.30 Uhr, steht Frau Fetterman im Frank J. Pasquerilla Conference Center in Johnstown und stellt 300 Personen ihren Ehemann vor. John Fetterman, 13 Jahre lang Bürgermeister von Braddock, ist seit drei Jahren Vizegouverneur des Gliedstaats. Das Macht Frau Fetterman zur Second Lady of Pennsylvania. Sie pflegt es mit «SLOP» abzukürzen.

Jetzt ist ihr Mann Kandidat der Demokratischen Partei für den US-Senat. «Sprechen wir darüber», sagt er, «ich hatte einen Schlaganfall. Und sie hat mir das Leben gerettet». Aus dem Saal ruft eine Frau: «Sie ist es, die wir wirklich wollen.» Aber Frau Fetterman kandidiert nicht. Der Kandidat ist Herr Fetterman.

John Fetterman, Senator-Kandidat der Demokraten in Pennsylvania.
John Fetterman, Senator-Kandidat der Demokraten in Pennsylvania.bild: johann aeschlimann

Im Mai, wenige Tage vor der Vorwahl, hatte Fetterman einen Schlaganfall, der nachwirkt. Er kann, wie eine Interviewerin öffentlich machte, nur mithilfe eines Computerprogramms alles verstehen, was ihm gesagt wird. Und er hat gelegentlich Mühe, Worte zu finden. Sein Gegner, der TV-Arzt Dr. Mehmet Oz, dreht ihm daraus einen Strick. Seine Anhänger fragen, wie es um einen Volksvertreter bestellt sei, der nicht zu «kommunizieren» vermöge.

Fetterman macht darüber einen Witz. Er höhnt über einen Propagandaauftritt in einem Lebensmittelgeschäft, wo Oz sich vor laufenden Kameras über die hohen Preise für «crudités» enervierte. Oz habe nicht einmal den Namen des Geschäfts richtig sagen können, sagt Fetterman: «Aber ich weiss, wo zum Teufel ich einkaufe.» Und «crudités»? Ein gewöhnlicher Amerikaner nennt es Grünzeug – greens. «Ich wusste nicht einmal vor dem Schlaganfall, was das ist. Nascht ihr «crudités», wenn ihr die Steelers schaut?» Der Griff zum Football. In Philadelphia, wo die Eagles am Sonntag gegen den Erzfeind Dallas Cowboys antreten, hing die Fetterman-Kampagne grosse Strassenplakate auf: «Dr. Oz ist ein Cowboys-Fan.»

In Johnstown (Gründer: Josef Schantz/«Johns» aus der Alten Eidgenossenschaft), einst auch eine Stahlstadt, auch unten durch, zeigt John Fetterman keine Anzeichen kommunikativer Schwäche. Eine gute halbe Stunde spricht er frei und ohne zu stocken, immer und immer wieder auf seinen Gegner einhämmernd: «Was ist das für ein Arzt, der sich darauf freut, dass ein kranker Mann krank bleibt?»

Supporters surround John Fetterman, right, Pennsylvania's Democratic lieutenant governor and senate candidate, during a Labor Day parade in downtown Pittsburgh, on Monday, Sept. 5, 2022. His wife ...
Die Fettermans an einer Demo in Pittsburgh im September.Bild: keystone

Für einen wie John Fetterman ist Mehmet Oz der ideale Gegner. Fetterman, Sohn eines Versicherungsgewerblers aus York, Pennsylvania, fand über die Sozialarbeit im AmeriCorps zur Politik. Er liess sich in Braddock nieder, wurde dort Leiter der Jugendarbeit und Teilzeitbürgermeister und erregte durch unkonventionelle Initiativen nationales Aufsehen. Er lebt mit Frau und Familie auch nach der Wahl zum Vizegouverneur weiterhin im Ort (in einer umgebauten Chevy-Filiale). Das Engagement wurde durch finanzielle Zuwendungen seines Vaters unterstützt, und er war mit den Steuern im Rückstand, was ihm die Oz-Kampagne in der TV-Werbung unter die Nase reibt.

Umgekehrt Dr. Oz (der Doktortitel ist Markenzeichen im Fernsehgeschäft und in der Politik): Geboren in Cleveland, Sohn eingewanderter Türken, Vater Arzt, türkisch-amerikanischer Doppelbürger (Oz diente in der türkischen Armee), Harvard-Absolvent, Herzchirurg, Professor, Dauergast bei der TV-Grösse Oprah Winfrey, seit 2009 eigene Dr.-Oz-Show über Medizinisches und Alternativmedizinisches, Impfskeptiker, Multimillionär.

Mehmet Oz, a Republican candidate for U.S. Senate in Pennsylvania, speaks during a campaign event in Malvern, Pa., Saturday, Oct. 15, 2022. (AP Photo/Laurence Kesterson)
Mehmet Oz
Fettermans Gegner, TV-Arzt Dr. Oz.Bild: keystone

Oz ist Muslim (was im Wahlkampf kein Thema ist), und er wird von Donald Trump unterstützt. Er wohnt im Nachbarstaat New Jersey und war bis 2020 politisch dort aktiv. Dass er seinen Wohnsitz in Pennsylvania hat, entdeckte er erst mit der Senatskandidatur. Das ist sehr wohl Thema. John Fetterman führt die Kampagne gegen Oz sowohl als Klassenkampf als auch als Homeboy gegen den fremden Fötzel. «Ich lebe in einer Stahlgemeinde wie Johnstown», ruft er den Anhängern im Conference Center zu. «Da ziehe ich meine Familie auf. Glaubt ihr, Dr. Oz würde so etwas tun? Ich habe Braddock gewählt, er wählte New Jersey.»

Fetterman verspricht Einsatz für das Recht auf Abtreibung, «medizinische Versorgung, wie ich sie hatte,» für alle, Kampf für höheren Mindestlohn («7.25 Dollar sind unamerikanisch»), Schutz der Gewerkschaftsrechte – Union Way of Life: Leben aus gewerkschaftlich gesicherter Arbeit. Inflation? «Wir müssen die Gier der Konzerne bekämpfen. Wie kommt es, dass ihr wegen der Inflation höhere Preise zahlen müsst, während die Konzernprofite auf Rekordhöhe stehen?» Kriminalität? Fetterman wird vorgeworfen, «weich gegen Verbrecher» zu sein (er wirbt für Entkriminalisierung von Marihuana und die Freilassung von ungefährlichen Sträflingen). Im Gegensatz zu seinem Gegner hat er eigene Erfahrung parat: «Was weiss Oz schon von der Kriminalität? Er benutzt die Kriminalität in Philadelphia für käsige Photo-Gelegenheiten. Während meiner Amtszeit geschah in Braddock fünfeinhalb Jahre kein einziger Mord. Das hat es weder vorher noch nachher gegeben.» Die Daten der Morde, die sich während seiner Amtszeit ereigneten, liess sich Fetterman auf den rechten Arm tätowieren. Es sind neun.

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John Fettermans rechter Arm erinnert an die Morde während seiner Amtszeit als Bürgermeister von Braddock.Bild: keystone

In Johnstown hat Fetterman ein Heimspiel. Gegen Oz zieht er auch die Karte Trump, der ja bekanntlich die Rebellen des Sturms auf das Capitol vom 6. Januar 2021 alle laufen lassen wolle. «Hang’em», gellt eine Frau aus dem Publikum – «hängt sie auf». «Send’em to Russia», schreit ein anderer.

Wahlkampf in den USA 2022, Midterms: Gewählt werden das ganze Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats. Die knappen Mehrheiten der Demokraten in beiden Häusern stehen auf der Kippe. Wenn die Republikaner auch nur eine Mehrheit gewinnen, kann Präsident Biden weitere politische Vorhaben ins Kamin schreiben. Es wird blockiert werden.

Normalerweise ist die Partei, die den Präsidenten stellt, im Nachteil. Besonders, wenn dieser unpopulär ist und die Wirtschaft schlecht läuft. So wie jetzt. Aber dieser Wahlkampf ist ein Kulturkampf. Es geht nicht um Programme oder «Politikentwürfe», wie die Deutschen sagen, sondern um den Krieg zwischen zwei Welten. «Wir» gegen «sie». Hyperpersonalisiert. Auf beiden Seiten ruhen die Hoffnungen weniger auf den «Inhalten» als auf Persönlichkeiten, welche die «Inhalte» im Parlament in Washington durchboxen sollen.

Trügerische Hoffnungen nach der Wahl. Was als Heldin oder Held der Ungewöhnlichkeit gewählt wird, fügt sich unter der Kuppel des Capitols gewöhnlich den vorgefundenen Gegebenheiten. Und trügerische Gewissheiten vor der Wahl: Der vermeintlich leicht besiegbare Idiot kann sich als schwieriger Gegner entpuppen. Letztes Beispiel ist der Ex-Football-Spieler Herschel Walker, der als Kandidat der Republikaner bei der Senatswahl in Georgia antritt.

Sen. Rick Scott, R-Fla., left, listens as Georgia Republican Senate Candidate Herschel Walker speaks during a campaign stop on Tuesday, Oct. 11, 2022, in Carrollton, Ga. (AP Photo/Megan Varner)
Herschel Walker bei einer Wahlkampfveranstaltung in Carrollton, Georgia.Bild: keystone

Walker hat sich durch unglaublich dumme Aussagen lächerlich und als Abtreibungsgegner unglaubwürdig gemacht (eine Frau behauptet, er habe ihre Abtreibung finanziert und sie zu einer zweiten überreden wollen). Aber in der TV-Debatte in dieser Woche zeigte er sich als schlagfertiger Sprücheklopfer, der seinen Gegner mehr als einmal ins Abseits laufen liess.

Bis zur Wahl vergehen noch drei Wochen. Es ist noch längst nicht aller Tage Abend.

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19 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sa_Set
17.10.2022 12:33registriert Oktober 2019
Wie in Amerika der Wahlkampf abläuft ist ein Trauerspiel. Null Inhalte und hauptsache laut. Leider schwappt das auch zu uns rüber.
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tr3
17.10.2022 12:50registriert April 2019
Neun Morde in 13 Jahren. Der Ort hat 1700 Einwohner.

Dieses Land ist so kaputt.
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Kay Hug (2)
17.10.2022 12:39registriert Juli 2019
"Wir gegen sie" ist doch nicht wirklich 'Hyperindividualismus' sondern eher 'Gruppendenken', oder nicht?
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