Donald Trump mag als notorischer Übertreiber seine Wiederwahl zur historischen Einzigartigkeit ohnegleichen und zu sonstigen Superlativen verklären. Doch der Blick auf das globale Superwahljahr 2024 zeigt etwas anderes. Seine Wiederwahl war nur die Regel in einem weltweit gesehen einzigartigen Wahljahr.
In zehn wichtigen Demokratien wurden die Amtsinhaber abgestraft. Das zeigt die Datenbank Parlgov, welche die Wahlergebnisse dieser Länder um 120 Jahre zurückverfolgt. Die regierenden Parteien verloren überall Stimmenanteile – überall, wie die «Financial Times» berichtet. Das war so beispielsweise in den USA, Indien, Japan, Frankreich oder Grossbritannien. Deutschland wird sich wohl als Nächstes in dieses Muster einreihen, wenn sich Olaf Scholz und seine SPD wieder den Wählerinnen und Wählern stellen.
Die Erklärung für die Wut der Wähler dürfte sich in ihren Geldbeuteln finden. Denn dort sieht es traurig aus, wie der grosse Beschäftigungsausblick des Ländervereins OECD aufzeigt. Noch immer können die Menschen in 16 von 35 Ländern weniger für ihren Lohn kaufen als vor dem Corona-Ausbruch. Ihre Kaufkraft war also Anfang 2024 noch immer tiefer als 2019. Das sind fünf schlechte Jahre.
In Frankreich ging es noch knapp in die Höhe, jedoch nur um 0,8 Prozent seit Ende 2019. In Deutschland jedoch nahm die Kaufkraft ab, nämlich um 2 Prozent. Italien erwischte es bös, mit einem Verlust von fast 7 Prozent. Schlecht lief es auch den nordischen Ländern mit einem Rückgang von 1,5 Prozent in Norwegen, 3,5 Prozent in Dänemark, 5,9 Prozent in Finnland und 7,5 Prozent in Schweden. In den USA kam es zu einem realen Lohnrückgang von rund 0,8 Prozent und in Kanada von 2,5 Prozent.
Auch die Schweiz konnte sich diesem tristen Trend nicht entziehen. Sie schneidet zwar geradezu sensationell gut ab in der Vermeidung von Inflation. Von knapp 40 Ländern war die Inflation nur in Japan ähnlich tief, wenn man die höchsten Jahresinflationsraten miteinander vergleicht. Gemäss OECD war ein Anstieg der gesamten Konsumentenpreise um 3,5 Prozent zum Vorjahr der höchste Inflationswert für die Schweiz. Im Durchschnitt aller industriellen Länder waren es über 10 Prozent. Also fast dreimal mehr.
Doch dieser Erfolg hat nicht verhindern können, dass auch in der Schweiz die Kaufkraft nicht gerade dahinschwand, aber doch abnahm. Um 2,1 Prozent nämlich. Es ging also nicht aufwärts mit den durchschnittlichen realen Löhnen, wie dies in einer wachsenden Wirtschaft der Fall sein sollte. Noch nicht einmal die Wahrung der Kaufkraft wurde erreicht. Es ging abwärts.
Diese Lohnmisere mutet auf den ersten Blick rätselhaft an. Denn zugleich läuft es am Arbeitsmarkt sehr gut, wenn man etwa auf die Arbeitslosenquoten schaut. Sie stehen in den meisten Ländern nur wenig höher oder deutlich tiefer als im Rekordtief der letzten zwei Jahrzehnte. Das gilt für die USA, die Eurozone oder den Durchschnitt aller industriellen Länder. Und es gilt schon seit einiger Zeit. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote aller Industrieländer liegt seit 30 Monaten unter 5 Prozent. Kurz gesagt: Die Arbeitsmärkte haben geboomt und laufen noch immer gut bis sehr gut, doch die Löhne enttäuschen.
Genau diesen Gegensatz hat auch die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich festgestellt. Eine Eigenheit der letzten Jahre sei die Tatsache gewesen, dass die Löhne real rückläufig waren – trotz historisch ausgeprägtem Mangel an Arbeitskräften.
Immerhin dürfte die Zeit fallender Reallöhne in diesem Jahr zu einem Ende kommen. Die KOF prognostiziert, dass 2024 letztlich ein Lohnwachstum nach Abzug der Inflation von 0,8 Prozent herauskommen wird. 2025 gibt es ein Plus von real 1 Prozent. Dabei sind jedoch auch Lohnerhöhungen enthalten, welche die Arbeitnehmenden erst nach allfälligen Jobwechseln erhalten haben.
Die Erklärung für die grosse Lohnmisere dürfte die Inflation sein. Gewerkschaften und Arbeitnehmende schafften es nicht, einen Ausgleich für die steigenden Preise durchzudrücken. Die Löhne stiegen zu langsam – und die Kaufkraft ging verloren. Dass es diesen Inflationsausgleich nicht gab, obschon die Arbeitsmärkte boomten, dürfte mit der Einzigartigkeit des Inflationsschocks zu tun haben. Die Schweiz hat zuvor etwa 30 Jahre lang keine solch hohe Inflation mehr gehabt, die USA etwa 40 Jahre und Deutschland etwa 70 Jahre nicht. Die Arbeitnehmer wurden überrascht.
Die Lohnentwicklung könnte noch ein zu mildes Bild davon abgeben, wie unzufrieden die Wählerinnen und Wähler sind. Wie eine Studie der Universität Harvard zeigt, schauen sie vor allem auf die Preise respektive die steigenden Preise. Dass diese zwar nicht vollständig, aber wenigstens teilweise durch Lohnerhöhungen wettgemacht wurde, nehmen sie gar nicht erst wahr. Für sie ist die Lohnerhöhung das eigene Verdienst, die Inflation die Schuld der regierenden Parteien. Sie haben etwas geleistet; die Amtsinhaber etwas vermasselt.
Die Wut über die Inflation richte sich gegen die jeweils regierenden Parteien und spült irgendwelche Alternativen an die Macht, auch Politiker mit extremen Positionen. Die deutsche Ökonomieprofessorin Isabella Weber warnt daher in den sozialen Medien, die Wahl von Trump habe gezeigt: «Die Inflation ist eine Gefahr für die Demokratie.»
Weber fordert deshalb, die Bevölkerung besser gegen «Kostenschocks» zu schützen. Heute überlasse man den Kampf gegen die Inflation zu sehr den Zentralbanken, die nach Schocks wie Corona ihre Leitzinsen erhöhen. Doch damit würden nur noch mehr Menschen arbeitslos, die Kaufkraftverluste nur langsam korrigiert und die finanziellen Nöte letztlich ignoriert.
Einen «wirtschaftspolitischen Katastrophenschutz» brauche es, so Weber in einem Beitrag für die «Zeit». Man müsse etwa Häfen dazu zwingen, Reserven aufzubauen, um Knappheiten und Kostenschübe zu verhindern. Oder es müssten Pufferlager von Grundnahrungsmitteln wie Getreide aufgebaut oder ausgeweitet werden, so wie sie die USA mit ihren strategischen Erdölreserven hätten.