So schlimm ist das US-Drogenproblem – und so wenig hat Venezuela damit zu tun
Die USA rasseln mit dem Säbel. Sie sind mit einem Geschwader Kriegsschiffe in die Karibik gestochen und haben seit Anfang September mindestens 20 Schiffe versenkt. Über 80 Menschen wurden umgebracht. Es handelt sich um extrajustizielle Tötungen – also um Verletzungen von humanitärem und internationalem Recht.
Dem widersprechen die USA. Der Einsatz sei auch in dem Umfang gerechtfertigt, betonen sowohl US-Aussenminister Rubio als auch Vizepräsident Vance. Bei der Operation «Southern Spear» handle es sich um einen Verteidigungsakt. Versenkt würden ausschliesslich Drogenkuriere und deren Produkte. Diese würden US-Bürger vergiften.
Laut den USA bilden der Präsident Venezuelas, Nicolas Maduro, Innenminister Diosdado Cabello und Verteidigungsminister Vladimir Padrino Lopez die Spitze des Drogenkartells Cartelo de los Soles. Insgesamt sind 90 Millionen Dollar Kopfgeld auf die drei ausgeschrieben. Dieses offizielle Narrativ der USA wird bezweifelt. Einer der dezidiertesten Kritiker der USA ist Pino Arlacchi. Der Italiener, der in der watson-Kommentarspalte auch schon als «irgendein Experte» betitelt wurde, leitete das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC), war führend in der Mafiaforschung und Vorsitzender der International Association for the Study of Organized Crime.
In Italien wurde er damit beauftragt, die Strafverfolgungsbehörde zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (DIA) zu gründen – der 1992 ermordete Staatsanwalt Giovanni Falcone war sein Freund. Arlacchi ist aber vor allem Wissenschaftler. Er beruft sich auf Daten. Und die zeigen: Venezuela ist ein kleiner Fisch im Drogenteich – und sicher nicht hauptverantwortlich für die zahlreichen Drogentoten in den USA.
Woran sterben US-Drogenabhängige?
Nicht wegreden lässt sich das Drogenproblem der USA. Das nationale Institut für Drogenmissbrauch nennt die aktuelle Situation eine «Overdose Crisis» – eine «Überdosis-Krise». Untertrieben ist das nicht. Die Anzahl Drogentoten in den USA hat sich seit 1999 (unter 20’000) auf über 100’000 (2023) Opfer pro Jahr versechsfacht. Ein besonders steiler Anstieg zeigt sich ab 2015.
Hauptverantwortlich für die vielen Todesfälle sind vor allem drei Drogentypen: synthetische Opioide, Methamphetamine und Kokain. Mit Abstand den grössten Teil hat die Gruppe der synthetischen Opioide zu verantworten. In diese gehört auch illegal hergestelltes Fentanyl (IMF). Weil es kostengünstig die Wirkung verstärkt, wird IMF häufig anderen Drogen beigemischt oder parallel konsumiert, sodass in vielen Fällen die tödliche Substanz ein Gemisch darstellt.
Die grösste Zunahme an IMF-Toten wurde während Donald Trumps erster Amtszeit (2017 - 2021) verzeichnet. Unter Joe Biden (2021 - 2025) wurde der Trend gestoppt. 2023 verzeichneten die USA zum ersten Mal weniger IMF-Tote als im Vorjahr. Neben Fentanyl forderten aber auch Methamphetamine und Kokain im Verlaufe des letzten Jahrzehnts exponentiell mehr Opfer – wie beschrieben oft in Kombination mit IMF.
Die Produktion der «tödlichen Drei»
Fentanyl ist ein synthetisches Produkt. Die (meist legal erwerbbaren) Chemikalien für die Herstellung werden laut der amerikanischen Drogenbehörde DEA aus China oder Indien nach Mexiko importiert und dort in Labors verarbeitet. Methamphetamin-Labore (Meth, Crystal Meth), bekannt aus der TV-Serie «Breaking Bad», gibt es auf der gesamten Welt. Laut dem US-Justizministerium stammt das in den USA konsumierte Meth aber hauptsächlich aus Mexiko, den USA und in einem geringeren Ausmass aus Südostasien. Die verschiedenen Herstellungsorte erkennen Fahnder an deren Inhaltsstoffen. In den oftmals von Abhängigen betriebenen amerikanischen Wohnwagenpark-Laboren werden andere Vorläuferchemikalien verwendet als im Ausland.
Noch klarer ist die Herkunft von Kokain. In Kolumbien standen im Jahr 2022 65 Prozent aller Plantagen (Grösse der Fläche). Peru war für 27 Prozent verantwortlich und Bolivien für acht. Schnelle Kopfrechner haben es bereits realisiert: Die drei Länder sind für die gesamte weltweite Kokainproduktion verantwortlich. Und diese steigt. Laut dem jüngsten UN-Drogenbericht hat das Jahr 2023 sämtliche Rekorde gebrochen: Noch nie wurden weltweit derart grosse Mengen hergestellt (3708 Tonnen). Die ohnehin schon emsigen Produzenten in Kolumbien steigerten ihre Quantitäten im Vergleich zum Vorjahr um 53 Prozent. In Bolivien blieben die Produktionsmengen konstant. Leicht rückläufig war sie in Peru.
Auch die Fahnder vermeldeten 2023 ein Rekordjahr. Im Zeitraum 2019 bis 2023 wurden 68 Prozent mehr Kokain sichergestellt als in den vier Jahren zuvor. Und das trotz der Corona-Pandemie.
Wie kommen die «tödlichen Drei» in die USA?
Die Hauptproduktionsstätten von Fentanyl und Meth liegen in Mexiko. Nach der Herstellung werden die Produkte über die Grenze in die USA geschafft. 96 Prozent des Fentanyls wird an der Südgrenze konfisziert, ein Prozent an der Grenze zu Kanada und der Rest im Inland oder in den Küstenregionen.
Etwas anders verhält es sich mit Kokain. Was nicht direkt aus den Andenländern eingeflogen wird, kommt über Zwischenstationen in die USA. Der Landweg über Mexiko gehört dabei ebenfalls zu den wichtigsten Routen.
Kokainrouten von Süd- und Nordamerika laut UNODC
Die UNODC hat die wichtigsten Ströme analysiert. Venezuela wird dabei als Hotspot angesehen, eine direkte Verbindung von Venezuela in die USA existiert nicht. 2,3 Prozent aller Kokain-Konfiszierungen ereigneten sich 2020 in Venezuela. 2023 waren es noch 1,9 Prozent. Was im Land selbst nicht konsumiert wird, wandert weiter nach Aruba und Grenada. Über Trinidad und Tobago und Mexiko kann dann «venezolanisches Koks» den Weg in die USA finden. Das sind aber nur sehr bescheidene Mengen.
Zu den Hauptumschlagsplätzen ausserhalb der produzierenden Staaten haben sich andere gemausert. Ecuador beispielsweise. Als Resultat davon hat sich die Mordrate in den letzten fünf Jahren fast versechsfacht (von 1400 auf 8200 pro Jahr). Früher eins der sichersten Länder Südamerikas, gehört es jetzt zur Gruppe mit der höchsten Anzahl Tötungsdelikten pro Einwohner. Verantwortlich sind primär rivalisierende Gangs, die einander mit aller Härte aus dem Markt drängen wollen. Enorme Mengen, 1400 Tonnen pro Jahr, werden über Guatemala in alle Welt geschleust.
Öl
Wie Pino Arlacchi erwähnt, entkommen die beiden Staaten dem Fokus der USA, weil sie im Vergleich zu Venezuela einen entscheidenden Vorteil haben: Sie produzieren kein Öl. Dies sei der wahre Grund für das US-Interesse, so der Professor.
Mit seiner Meinung ist Arlacchi nicht alleine. Der ehemalige stellvertretende FBI-Direktor Andrew McCabe beschreibt in seinem Bestseller «The Threat» eine Szene aus dem Weissen Haus aus dem Jahr 2017. Bei einem Briefing mit Geheimdienstleuten zum Thema russische Spione sei Donald Trump immer wieder abgewichen. Immer wieder habe er Nordkorea ins Spiel gebracht – aber auch Venezuela: «Das ist das Land, gegen das wir Krieg führen sollten», habe Trump gesagt, «Die besitzen einen Haufen Öl und liegen direkt vor unserer Haustür.»
Erwähnt werden muss, dass sich McCabe während der besagten Geschichte nicht persönlich im Oval Office befand. Über die Ereignisse wurde er anschliessend von einem Agenten informiert. Glaubwürdig erscheinen die Aussagen trotzdem. Berichte (1,2) aus dem Jahr 2018 legen nahe, dass Trump im Sommer 2017 immer wieder die Idee einer Invasion des südamerikanischen Landes aufbrachte. Vor allem dem damaligen nationalen Sicherheitsberater HR McMaster sei es zu verdanken, dass es bei einer Idee blieb. Trump äusserte sie später auch gegenüber Reportern beim Golfen in New Jersey und dem Präsidenten von Kolumbien. Damals schob er «zivile Unruhen» vor.
Dass es in Venezuela rumort, ist unbestritten. Maduro dürfte nicht mehr an der Macht sein. Doch auch wenn die Idee eines Regimesturzes durch die USA als hehre Absicht verpackt werden kann, hat die Erfahrung doch gezeigt: Es ist als Mittel hauptsächlich eines: erfolglos.
