Sie versuchten gar nicht erst, ihre Differenzen zu verbergen. Mit steinerner Miene begrüssten sich die britische Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Donnerstag in Brüssel. Es gab keinen von Junckers berüchtigten Küssen, nur einen kurzen Händedruck. 50 Tage vor dem Brexit sind die Positionen beider Seiten nach wie vor unvereinbar.
Die Diskussion zwischen May und Juncker seien «robust» gewesen, hiess ungewohnt deutlich. Nicht hilfreich war dabei die Aussage von EU-Ratspräsident Donald Tusk vom Vortag, es gebe einen «speziellen Platz in der Hölle» für jene Brexit-Befürworter, die keinen Plan für den Austritt gehabt hätten. Es war eine kalkulierte Provokation des Polen, der die britische Schwachstelle traf.
Obwohl das Austrittsdatum am 29. März immer näher rückt, wirken die Briten nach wie vor planlos. EU-Beamte klagten, Theresa May habe in Brüssel keinen einzigen konkreten neuen Vorschlag gemacht. Hauptproblem bleibt der Backstop, der Notfallplan für eine offene Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordteil der Grünen Insel.
Daneben werden die Konsequenzen eines No-Deal-Brexit für die britische Wirtschaft immer deutlicher. Kein Tag vergeht ohne alarmierende Meldung in dieser Hinsicht. Die Regierung in London hat daraus Konsequenzen gezogen. Sie will die Grenze für Lastwagen im Falle eines Austritts ohne Abkommen faktisch offen halten, um Versorgungsengpässe zu vermeiden.
Daneben erwägt die Regierung offenbar die Aufhebung sämtlicher Einfuhrzölle, was Experten als «Schnapsidee» bezeichnen. Der zuständige Handelsminister Liam Fox dementierte entsprechende Berichte keineswegs. Er bestätigte am Mittwoch vielmehr, dass dies eine «Möglichkeit» sei. Eine totale Aufhebung lehnt Fox ab, sie solle höchstens für einzelne Wirtschaftsbereiche gelten.
Nicht betroffen wäre die Landwirtschaft. Bei einem No-Deal-Brexit würden demnach auf die Einfuhr von Lebensmitteln aus der EU Zölle nach den Vorgaben der Welthandelsorganisation WTO fällig werden. Weil die Briten rund 30 Prozent ihres Bedarfs vom Kontinent beziehen, würden die Konsumenten dies im Laden oder im Restaurant zu spüren bekommen.
Mehrere grosse Detailhändler und Gastrounternehmen – darunter Sainsbury, Lidl, KFC und McDonald's – haben in einem Brief an das Unterhaus eindringlich vor diesem Szenario gewarnt. Es werde «unweigerlich» ein Druck auf die Lebensmittelpreise entstehen, nicht nur wegen Zöllen, sondern auch wegen höheren Transportkosten und einer möglichen Abwertung des britischen Pfund.
Am meisten darunter leiden würden die Geringverdiener, von denen es im Königreich nicht wenige gibt. Und die dem Brexit deutlich zugestimmt haben. Höhere Preise sind auch in anderen Bereichen zu erwarten. So müssen die Briten damit rechnen, dass die in der EU abgeschafften Roaminggebühren im Mobilfunk nach dem Austritt wieder eingeführt werden.
Der zuständige Kulturminister Jeremy Wright musste dies am Donnerstag im Unterhaus auf eine dringliche Anfrage der Labour-Partei einräumen: «Wenn wir die Europäische Union verlassen, wird es der britischen Regierung nicht möglich sein, Mobilfunkanbietern in der EU unsere Regeln und Erwartungen aufzuzwingen.» Ein entlarvender Satz, der die Misere auf den Punkt bringt.
Denn auch für die wichtige Autoindustrie droht Ungemach. Die EU verhängt auf Autoimporte einen Zoll von zehn Prozent (ein zentraler Punkt im Handelsstreit mit den USA). Weil sie gemäss WTO-Regeln niemanden bevorteilen darf, wären britische Autos bei einem Austritt ohne Vertrag davon betroffen – ein massiver Nachteil gegenüber der europäischen Konkurrenz, denn die 40 Prozent der britischen Produktion gehen in die EU.
Luxushersteller wie Bentley oder Rolls-Royce können damit umgehen. Für jene, die den Massenmarkt beliefern, kann dies existenzielle Folgen haben. Es erstaunt nicht, dass in der britischen Autoindustrie Pläne für Stellenabbau oder Werkschliessungen kursieren. Leidtragende wären ebenfalls die «Little People», denn vom Autobau hängen Zehntausende Jobs ab.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Bei einem «harten» Brexit würden automatisch alle Handelsverträge hinfällig, in die das Königreich als EU-Mitglied eingebunden war. Zum Beispiel das gerade in Kraft getretene Abkommen mit Japan, mit dem die grösste Freihandelszone der Welt entstanden ist. Grossbritannien müsste einen eigenen, neuen Deal anstreben.
Fast 50 Jahre Mitgliedschaft in der heutigen EU haben die britische Wirtschaft eng mit dem Kontinent verflochten. Die Vorstellung der Brexit-Hardliner, das einstige Empire werde nach dem Bruch mit der EU rasch Handelsverträge mit aller Welt abschliessen können und so einer glorreichen Zukunft entgegen gehen, stammt aus der Hogwarts-Zauberküche.
Das linke Magazin «New Statesman» bringt es auf den Punkt: «Es schien undenkbar, das aus einer tragenden Säule des Welthandels über Nacht ein ausgegrenzter Paria werden könnte. Genau dies aber wird von vielen unserer gewählten Abgeordneten propagiert.» Für das Chaos und Elend, das ein No-Deal-Brexit verursachen würde, gebe es nur einen passenden Namen: Venezuela-Option.