International
Wirtschaft

Britische Regierung nach Nissan-Schock in Brexit-Panik

FILE - In this June 8, 2011 file photo, Britain's Prime Minister David Cameron looks at a new Nissan Qashqai car after the automaker announced that the UK Nissan factory will manufacture the mode ...
Ex-Premier David Cameron in einem speziell lackierten Nissan Qashqai. Die Japaner wollen ein neues Modell nicht wie versprochen in Sunderland produzieren.Bild: AP/AP

Jetzt erkennen die Briten langsam den Brexit-Irrsinn – Panik kommt auf

Der Brexit wird für die britische Wirtschaft zunehmend zum Albtraum. So will der Autohersteller Nissan ein neues Modell nicht auf der Insel bauen. Die Regierung erwägt grenzwertige Massnahmen.
06.02.2019, 16:0007.02.2019, 14:48
Mehr «International»

Die Industriestadt Sunderland im Nordosten Englands hat 2016 mit 61 Prozent klar für den Brexit gestimmt. In Sunderland befindet sich auch die mit Abstand grösste Autofabrik Grossbritanniens. Der japanische Hersteller Nissan produzierte dort letztes Jahr 442'000 Fahrzeuge. 7000 Personen arbeiten in der Fabrik, weitere 28'000 Arbeitsplätze sind von ihrem Wohlergehen abhängig.

Umso grösser war der Schock, als Nissan-Europachef Gianluca de Ficchy am letzten Sonntag ankündigte, die nächste Generation des Offroaders X-Trail nicht wie 2016 versprochen in Sunderland, sondern in Japan zu produzieren. Als Gründe nannte er die eingebrochenen Dieselverkäufe und «die Unsicherheit über das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs mit der EU».

Diese 20 Cartoons fassen das Brexit-Chaos perfekt zusammen

1 / 22
Diese 20 Cartoons fassen das Brexit-Chaos perfekt zusammen
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Modelle wie Leaf und Qashqai würden weiterhin in Nordengland hergestellt, liess Nissan verlauten. In der Brexit-Hochburg Sunderland fragen sich manche, ob dies auch bei einem vertragslosen Austritt am 29. März gelten wird. Bereits nach der Abstimmung im Juni 2016 waren besorgte Stimmen zu vernehmen, die um den Bestand der Fabrik bangten.

Der wichtige EU-Markt

Für Sunderland wäre eine Schliessung verheerend. Die Hafenstadt wurde vom Niedergang der «traditionellen» Industrien wie Berg- und Schiffbau hart getroffen. Die Nissan-Fabrik war 1986 von der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher eröffnet worden. Sie hatte die Japaner mit Steuergeschenken angelockt – und dem Zugang zum europäischen Markt.

Dieser ist für die britische Autoindustrie überlebenswichtig. 80 Prozent der Produktion werden exportiert, die Hälfte davon in die EU. Gleichzeitig ist man von Zulieferern vom Kontinent abhängig. Mehr als 1000 Lastwagen mit Bauteilen kommen laut dem «Handelsblatt» täglich auf der Insel an. Nun fürchten Nissan und andere Hersteller, dass der Brexit den Austausch massiv beeinträchtigt.

Jaguar Land Rover, der grösste Autobauer, kündigte im Januar den Abbau von 4500 Stellen an. Als Gründe wurden ebenfalls der Dieselskandal und der Brexit genannt. Andere Hersteller wie Ford und Vauxhall (gehört zum französischen PSA-Konzern) erwägen gemäss Bloomberg ihrerseits Jobkürzungen und die Schliessung von Produktionsstätten.

epa06920750 Trucks onboard Dunquerque Seaways ferry of DFDS as it arrives in Dover port in Dover, Britain, 31 July 2018. Reports state Dover, but also Calais in France may face serious economic proble ...
Täglich kommen Tausende Lastwagen nach Grossbritannien.Bild: EPA/EPA

Langsam dämmert den Briten, welche Folgen der Austritt aus dem gemeinsamen Markt und der Zollunion für die Wirtschaft haben könnte. Die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexit am 29. März verschärft das Problem. «Je länger die Brexit-Unsicherheit andauert, umso grösser der Schaden», sagte David Bailey, Professor für Industriestrategie, gegenüber Bloomberg.

Lastwagen durchwinken

Die Regierung erwägt deswegen im wahrsten Sinne grenzwertige Massnahmen. Am Montag liess die Zollbehörde verlauten, man wolle Lastwagen auch bei einem No-Deal-Brexit an der Grenze faktisch «durchwinken». Erst nachträglich müssten die Waren deklariert werden. Die Massnahme soll vorläufig ein Jahr gelten, schreibt die «Financial Times».

Damit sollen nicht nur die Lieferketten für die Industrie gesichert werden. Es geht auch um die Versorgung mit elementaren Gütern. Das Königreich importiert rund ein Drittel seiner Lebensmittel aus der EU. Tausende Lastwagen bringen sie jeden Tag mit Fähren und via Eurotunnel auf die Insel. Detailhändler warnen vor Engpässen bei der Einführung von Grenzkontrollen.

«Absolute Schnapsidee»

Noch massiver wäre eine Massnahme, die Handelsminister Liam Fox – ein feuriger Brexit-Befürworter – laut der britischen Ausgabe der «Huffington Post» bei einem Treffen mit Wirtschaftsführern vorgestellt hat. Die britische Regierung erwägt demnach bei einem No-Deal-Brexit sämtliche Einfuhrzölle vorübergehend aufzuheben. Das Wirtschaftsmagazin «Fortune» bezeichnet den Plan als «absolute Schnapsidee».

Emily und Oliver – unsere zwei Briten erklären den Brexit

Video: watson/Oliver Baroni, Emily Engkent

Zwei Gründe sprächen dagegen. So verlangen die WTO-Regeln, dass die Briten die Zölle für sämtliche Importe – nicht nur jene aus der EU – abschaffen. Damit wäre die britische Wirtschaft der weltweiten Billigkonkurrenz schutzlos ausgeliefert. Ausserdem würden die Briten von sich aus den wichtigsten Anreiz für neue Handelsverträge mit EU, USA und anderen potenziellen Partnern beseitigen.

Wird Brexit verschoben?

Für die oppositionelle Labour-Partei ist der Fox-Plan «totaler Irrsinn». Man kann ihn auch als Indiz für eine wachsende Panik in der konservativen Regierung angesichts des immer näher rückenden Austrittsdatums interpretieren. Das betrifft auch das grösste Brexit-Problem. Für den ungeliebten Backstop, die Notfalllösung für die irische Grenze, ist eine Lösung weiterhin nicht in Sicht.

Premierministerin Theresa May reist deswegen am Donnerstag nach Brüssel in der Hoffnung, doch noch einen Ausweg zu finden. Gleichzeitig berät ihr Kabinett offenbar über eine Verschiebung des Brexit um acht Wochen auf den 24. Mai, berichtet die Zeitung «Telegraph». Damit könnte man etwas Zeit gewinnen und verhindern, dass die Briten an der Europawahl teilnehmen müssen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
218 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Petoman
06.02.2019 16:41registriert Mai 2015
Typisch, wenn die Rechten-Polteri-Schreihals-Politiker ihre Scheinlösungen umsetzen müssen, scheitern Sie grandios. Bitter einfach, dass Sie immer noch Stimmen erhalten. Wer tf wählt die noch?!?

Und nein, ich bin nicht EU Befürworter oder Links. Habe einfach die Schnauze voll von diese grosspurigen Heilbringer wie Blocher, May, Trump und wie sie alle heissen.
928164
Melden
Zum Kommentar
avatar
Loeffel
06.02.2019 16:26registriert Oktober 2016
„Ins eigene Knie schiessen“ — [Dt. Redewendung. Bedeutung gemäss Duden: mit 61% für Brexit abstimmen und nicht wissen dass man ein internationaler Industriestandort ist] 🤦🏼‍♂️
59370
Melden
Zum Kommentar
avatar
Scaros_2
06.02.2019 16:24registriert Juni 2015
Man stelle sich vor, Migranten und Asylsuchende erfahren davon, dass man LKWs einfach durchwinken würde. XD
51046
Melden
Zum Kommentar
218
Sika wächst dank grosser Übernahme stark

Die Bauchemie- und Klebstoffherstellerin Sika ist mit einem starken Umsatzplus ins Geschäftsjahr 2024 gestartet. Eine grosse Akquisition steuerte den grössten Teil zum Wachstum bei.

Zur Story