Die Industriestadt Sunderland im Nordosten Englands hat 2016 mit 61 Prozent klar für den Brexit gestimmt. In Sunderland befindet sich auch die mit Abstand grösste Autofabrik Grossbritanniens. Der japanische Hersteller Nissan produzierte dort letztes Jahr 442'000 Fahrzeuge. 7000 Personen arbeiten in der Fabrik, weitere 28'000 Arbeitsplätze sind von ihrem Wohlergehen abhängig.
Umso grösser war der Schock, als Nissan-Europachef Gianluca de Ficchy am letzten Sonntag ankündigte, die nächste Generation des Offroaders X-Trail nicht wie 2016 versprochen in Sunderland, sondern in Japan zu produzieren. Als Gründe nannte er die eingebrochenen Dieselverkäufe und «die Unsicherheit über das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs mit der EU».
Modelle wie Leaf und Qashqai würden weiterhin in Nordengland hergestellt, liess Nissan verlauten. In der Brexit-Hochburg Sunderland fragen sich manche, ob dies auch bei einem vertragslosen Austritt am 29. März gelten wird. Bereits nach der Abstimmung im Juni 2016 waren besorgte Stimmen zu vernehmen, die um den Bestand der Fabrik bangten.
Für Sunderland wäre eine Schliessung verheerend. Die Hafenstadt wurde vom Niedergang der «traditionellen» Industrien wie Berg- und Schiffbau hart getroffen. Die Nissan-Fabrik war 1986 von der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher eröffnet worden. Sie hatte die Japaner mit Steuergeschenken angelockt – und dem Zugang zum europäischen Markt.
Dieser ist für die britische Autoindustrie überlebenswichtig. 80 Prozent der Produktion werden exportiert, die Hälfte davon in die EU. Gleichzeitig ist man von Zulieferern vom Kontinent abhängig. Mehr als 1000 Lastwagen mit Bauteilen kommen laut dem «Handelsblatt» täglich auf der Insel an. Nun fürchten Nissan und andere Hersteller, dass der Brexit den Austausch massiv beeinträchtigt.
Jaguar Land Rover, der grösste Autobauer, kündigte im Januar den Abbau von 4500 Stellen an. Als Gründe wurden ebenfalls der Dieselskandal und der Brexit genannt. Andere Hersteller wie Ford und Vauxhall (gehört zum französischen PSA-Konzern) erwägen gemäss Bloomberg ihrerseits Jobkürzungen und die Schliessung von Produktionsstätten.
Langsam dämmert den Briten, welche Folgen der Austritt aus dem gemeinsamen Markt und der Zollunion für die Wirtschaft haben könnte. Die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexit am 29. März verschärft das Problem. «Je länger die Brexit-Unsicherheit andauert, umso grösser der Schaden», sagte David Bailey, Professor für Industriestrategie, gegenüber Bloomberg.
Die Regierung erwägt deswegen im wahrsten Sinne grenzwertige Massnahmen. Am Montag liess die Zollbehörde verlauten, man wolle Lastwagen auch bei einem No-Deal-Brexit an der Grenze faktisch «durchwinken». Erst nachträglich müssten die Waren deklariert werden. Die Massnahme soll vorläufig ein Jahr gelten, schreibt die «Financial Times».
Damit sollen nicht nur die Lieferketten für die Industrie gesichert werden. Es geht auch um die Versorgung mit elementaren Gütern. Das Königreich importiert rund ein Drittel seiner Lebensmittel aus der EU. Tausende Lastwagen bringen sie jeden Tag mit Fähren und via Eurotunnel auf die Insel. Detailhändler warnen vor Engpässen bei der Einführung von Grenzkontrollen.
Noch massiver wäre eine Massnahme, die Handelsminister Liam Fox – ein feuriger Brexit-Befürworter – laut der britischen Ausgabe der «Huffington Post» bei einem Treffen mit Wirtschaftsführern vorgestellt hat. Die britische Regierung erwägt demnach bei einem No-Deal-Brexit sämtliche Einfuhrzölle vorübergehend aufzuheben. Das Wirtschaftsmagazin «Fortune» bezeichnet den Plan als «absolute Schnapsidee».
Zwei Gründe sprächen dagegen. So verlangen die WTO-Regeln, dass die Briten die Zölle für sämtliche Importe – nicht nur jene aus der EU – abschaffen. Damit wäre die britische Wirtschaft der weltweiten Billigkonkurrenz schutzlos ausgeliefert. Ausserdem würden die Briten von sich aus den wichtigsten Anreiz für neue Handelsverträge mit EU, USA und anderen potenziellen Partnern beseitigen.
Für die oppositionelle Labour-Partei ist der Fox-Plan «totaler Irrsinn». Man kann ihn auch als Indiz für eine wachsende Panik in der konservativen Regierung angesichts des immer näher rückenden Austrittsdatums interpretieren. Das betrifft auch das grösste Brexit-Problem. Für den ungeliebten Backstop, die Notfalllösung für die irische Grenze, ist eine Lösung weiterhin nicht in Sicht.
Premierministerin Theresa May reist deswegen am Donnerstag nach Brüssel in der Hoffnung, doch noch einen Ausweg zu finden. Gleichzeitig berät ihr Kabinett offenbar über eine Verschiebung des Brexit um acht Wochen auf den 24. Mai, berichtet die Zeitung «Telegraph». Damit könnte man etwas Zeit gewinnen und verhindern, dass die Briten an der Europawahl teilnehmen müssen.