In der Vorstellung des europäischen Durchschnittsbürgers ist die chinesische Wirtschaft nach wie vor gleichbedeutend mit billigen Smartphones und T-Shirts. Im Gegenzug werden vom alten Kontinent teure Autos, Medikamente und Uhren ins Reich der Mitte exportiert.
Vergesst es. Das grösste Wirtschaftswunder in der Geschichte der Menschheit hat China in den letzten Jahrzehnten in eine Hi-Tech-Nation verwandelt. Chinesen reisen in modernsten Hochgeschwindigkeitszügen und bewältigen ihren Alltag fast ausschliesslich mit dem Smartphone.
Unternehmen wie Tencent und Alibaba können locker mit Apple und Amazon mithalten, und es ist durchaus realistisch, wenn Präsident Xi Jinping verspricht, China werde bald führend auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz sein.
Was hat Europa dem entgegenzusetzen? Nicht allzu viel. Diese unangenehme Wahrheit beginnt sich herumzusprechen, auch in den obersten Kreisen. Die EU-Staatsoberhäupter haben deshalb das Verhältnis von Europa zu China in den Mittelpunkt ihrer Gespräche des Gipfels am kommenden Wochenende gesetzt.
Aufgeschreckt hat die europäischen Staatsoberhäupter die Tatsache, dass die chinesische «Belt and Road Initiative» (BRI) immer weitere Kreise zieht. Dieses Projekt will China mit Eisenbahnen, Strassen und auf dem Seeweg mit Afrika und Europa verbinden.
Gleichzeitig preist Peking immer offener das Modell des chinesischen Staatskapitalismus als Alternative zur westlichen Marktwirtschaft an. In einem Strategiepapier kommen führende EU-Diplomaten zum Schluss, dass China daher zu einem «System-Rivalen» geworden sei.
Vor allem die Deutschen haben ein zwiespältiges Verhältnis zu China entwickelt. Einerseits ist es ein bedeutender Absatzmarkt für ihre Exportindustrie, andererseits wird es zu einem ernsthaften Konkurrenten. Zudem haben sich die Chinesen wichtige deutsche Unternehmen gekrallt, etwa Kuka, ein Hersteller von Industrierobotern, oder sie haben Anteile von so wichtigen Firmen wie der Deutschen Bank und Mercedes erworben.
All dies ist den Deutschen nicht mehr ganz geheuer. Wirtschaftsminister Peter Altmaier will nach chinesischem Vorbild «nationale Champions» fördern, Unternehmen wie Siemens, die sich auch auf dem Weltmarkt behaupten können. Finanzminister Olaf Scholz drängt derweil auf die Fusion der Deutschen Bank mit der Commerzbank.
«Wenn ich mit der EU sprechen will, wen rufe ich da an?» Die legendäre Frage des ehemaligen US-Aussenministers Henry Kissinger ist nach wie vor gültig. Im Verhältnis zu China herrscht in Brüssel alles andere als Einigkeit. Die Oststaaten und die Mitglieder des Club Med haben mittlerweile sehr enge Bande zu China geknüpft. «China hat entdeckt, dass es die verschiedenen EU-Mitglieder gegeneinander ausspielen und so eine gemeinsame Politik verhindern kann», erklärt Robert Cooper, ein Berater der EU, in der «Financial Times».
In Griechenland sind die Chinesen bedeutende Investoren geworden. Auch Portugals Ministerpräsident Antonio Costa schwärmt von chinesischen Investitionen, genauso wie Viktor Orban in Ungarn. Insgesamt haben bereits 13 EU-Staaten geheime Abkommen mit Peking abgeschlossen.
Selbst Italien ist dem chinesischen Charme erlegen. Die Regierung in Rom hat soeben einen Vorvertrag mit Peking abgeschlossen, der chinesische Investitionen in die italienische Infrastruktur vorsieht und Italien in das BRI-Projekt einbindet. Präsident Xi wird am Freitag in Rom erwartet. Italiens Wirtschaftsminister rechtfertigt dieses Vorgehen mit dem Argument, sein Land könne so eine «wichtige Brückenfunktion zwischen den USA und China bilden».
Diese Dienste werden vorläufig kaum benötigt werden. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die USA und China ihre Handelsdifferenzen bald ausräumen und einen neuen Vertrag abschliessen werden. «Wir befinden uns auf der Zielgeraden», erklärte Myron Brilliant von der amerikanischen Handelskammer gegenüber dem «Wall Street Journal».
Sinnvollerweise würde der Westen geschlossen gegenüber China auftreten. Trump hält bekanntlich nichts davon. Das intern zerstrittene Europa befindet sich daher in Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten. Das zeigt aktuell die Auseinandersetzung um den chinesischen IT-Konzern Huawei. Die Amerikaner wollen mit aller Macht verhindern, dass die Europäer ihr 5G-Netz mit Huawei-Produkten bestücken.
Und was ist mit der Schweiz? Die CS hat kürzlich untersucht, welche Folgen ein Einbruch der chinesischen Wirtschaft für uns hätte. Auf den ersten Blick scheinen die Auswirkungen unbedeutend zu sein. Die Schweiz exportiert für rund zwölf Milliarden Franken Güter nach China, hauptsächlich Pharma, Maschinen und Uhren. Das ist weniger, als wir etwa nach Baden-Württemberg oder Bayern liefern.
Weit bedrohlicher könnten jedoch die indirekten Folgen sein. Der wichtigste Absatzmarkt für Schweizer Uhren ist Hongkong; und Schweizer Zulieferer für die Autoindustrie leiden, wenn VW & Co. keine Autos mehr ins Reich der Mitte verkaufen. So gesehen sind wir ebenfalls längst an das chinesische Wirtschaftswunder gebunden – ob es uns passt oder nicht.