Wenn sich Donald Trump und Xi Jinping am kommenden Samstag in Buenos Aires treffen werden, dann geht es vordergründig um Handelsverträge, Zölle und Patentrechte. Hintergründig jedoch geht es auch um die Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts: Wer wird die führende Nation auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz (KI) sein?
Noch zu Beginn dieses Jahrhunderts wäre das eine absurde Frage gewesen. Die USA besassen mit dem Silicon Valley das Epizentrum der digitalen Revolution. Wer es in der KI auf einen grünen Zweig bringen wollte, schlug seine Zelte in der Nähe von Palo Alto auf. Die Chinesen wurden als fleissige, aber harmlose Nachahmer belächelt.
Das war gestern. China werde das KI-Wettrennen klar gewinnen, lautet heute die These, die Kai-Fu Lee in seinem Buch «AI Superpowers» vertritt. Lee ist nicht irgendwer. Bevor er in China seine eigene Firma gegründet hat, war er in führender Position bei Apple und Microsoft tätig gewesen, und er hat Googles Geschäft in China aufgebaut. Sein Buch gilt in der KI-Szene derzeit als must read.
Lees These lässt sich wie folgt zusammenfassen: KI ist heute kein akademisches, sondern ein praktisches Problem. Dank dem Deep Learning sind die theoretischen Fragen weitgehend gelöst, es geht nun um die Umsetzung. Auf diesem Gebiet hat China die besseren Karten: Die Unternehmen haben mehr Hunger, es hat mehr Daten und es gibt eine sinnvolle Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und dem Staat.
Grundlage der KI ist das sogenannte Deep Learning. Will heissen: Man will der Software nicht mehr logisches Denken beibringen, wie das lange der Fall war. Vielmehr geht es darum, Algorithmen zu entwickeln, die es der Software erlauben, dank einer Fülle von Daten selbstständig Muster zu erkennen. In der Praxis bedeutet dies viel und langweilige Routinearbeit.
Unmengen von Fotos und Videos müssen den Robotern gefüttert werden, bevor sie wissen, was ein Auto, ein Rotlicht oder eine Schokolade ist, und dass sie erkennen, dass eine Katze eine Katze ist, unabhängig davon, ob sie weiss oder schwarz ist.
Typische Beispiele, in denen Deep Learning bereits eingesetzt wird, sind die selbstfahrenden Autos oder die Diagnose von Krankheiten. «Wir sind so aufgeregt über Deep Learning, weil seine Kernkompetenz – die Fähigkeit, Muster zu erkennen, sie für einen bestimmten Zweck zu optimieren und Entscheide zu fällen – für viele und verschiedene Alltagsprobleme eingesetzt werden kann», stellt Lee fest.
Weil die theoretischen Fragen gelöst sind, schlägt nun die Stunde der Praktiker. «Der grösste Teil der schwierigen abstrakten KI-Arbeit ist getan», so Lee. «Jetzt müssen die Unternehmer die Ärmel hochkrempeln und die Algorithmen in nachhaltige Businessmodelle umsetzen.»
Um den Charakter der chinesischen Unternehmer-Generation zu verdeutlichen, schildert Lee folgenden Vorfall. Um die Jahrhundertwende hielt er einen Vortrag an einer Universität in Peking. Spät abends kehrte er auf den Campus zurück. Dabei stellte er fest, dass immer mehr Studenten aus ihren Schlafsälen kamen und sich auf die Strasse setzten.
Bald erkannte Lee den Grund dieses seltsamen Rituals. In den Schlafsälen wurde um 23 Uhr das Licht gelöscht. Die Studenten setzten sich unter Strassenlampen, um so ein paar zusätzliche Lernstunden in ihren schon arbeitsreichen Tag pressen zu können.
Die Studenten von damals sind die Unternehmer von heute. Lee vergleicht sie mit römischen Gladiatoren. Wer den erbarmungslosen Wettbewerb in der chinesischen Start-up-Szene überlebt, den kann nichts mehr schrecken.
Das im Westen verpönte Kopieren hat dabei einen speziellen Wert. «Genau dieses weitverbreitete Klonen hat die Unternehmen zur Innovation gezwungen», so Lee. «Wer im Internet-Kolosseum überleben will, muss permanent Produkte wiederholen, Kosten im Griff haben, fehlerlos produzieren, positive PR generieren, Geld auftreiben. […] Dieser Friss-oder-stirb-Wettbewerb, in dem man ständig von rücksichtslosen Nachahmern umgeben ist, hat die hartnäckigste Unternehmensgeneration der Welt hervorgebracht.»
Der gnadenlose Wettbewerb im chinesischen Internet-Kolosseum zeigt Früchte. So hat die UBS kürzlich in einer Vermögensstudie festgehalten, dass in China alle zwei Tage ein neuer Milliardär entsteht. Der «Economist» meldet derweil, dass es inzwischen mehr chinesische Unicorns – Start-ups, die mehr als eine Milliarde Dollar wert sind – gibt als im Silicon Valley.
Selbst der ehemalige technologische Rückstand der Chinesen erweist sich nun als Wettbewerbsvorteil. Desktop-Computer waren bloss einer Elite vorbehalten. Für die normalen Chinesen hat das digitale Zeitalter mit dem Smartphone begonnen. Inzwischen ist es ein «digitales Schweizer Armeemesser» geworden, wie Lee sich ausdrückt.
Mit dem Smartphone erledigen die Chinesen praktisch alles. Bargeld ist aus dem Alltag verschwunden. Selbst die Bettler in Peking würden ihre Adressen bei Alipay oder WeChat angeben, spottet Lee. Shoppen, Flirten, Einkaufen, alles spielt sich online mit dem Smartphone ab.
Das wiederum verschafft den Chinesen einen wichtigen Vorteil im KI-Bereich: «Die Daten, die derzeit im mobilen Zahlungsverkehr generiert werden, ermöglichen die besten Einsichten über das Konsumverhalten, das die Welt je gesehen hat», stellt Lee fest. «Sie sind viel präziser als diejenigen, welche den Kreditkartenunternehmen und Online-Detaillisten wie Amazon oder Plattformen wie Google oder Yelp zur Verfügung stehen.»
Bleibt noch die Zusammenarbeit mit dem Staat. In den USA ist staatliche Unterstützung grundsätzlich verpönt. Politiker, die sich für Subventionen einsetzen, gehen ein hohes Risiko ein. Als etwa bekannt wurde, dass der Solarzellenhersteller Solyndra rund 500 Millionen Dollar staatliche Subventionen verbrannte, brach ein Sturm der Entrüstung los.
In China sieht man das nicht so eng. «Chinesische Regierungsvertreter sind bereit, einen Verlust zu verkraften, um hoch gesteckte Ziele zu erreichen», stellt Lee fest. «Der potenzielle Nutzen einer erfolgreichen Transformation lohnt sich für sie.»
«Wer die KI beherrscht, beherrscht die Welt», soll Wladimir Putin gesagt haben. Tatsächlich wird KI automatisch in Verbindung gebracht mit Cyberwar, Robotersoldaten, Drohnen, etc. Für Lee liegt die Gefahr nicht im militärischen, sondern im ökonomischen Bereich. Wegen der KI wird sich die bereits bestehende grosse Ungleichheit nochmals massiv verstärken. Rund 40 Prozent der Arbeitsplätze werden gemäss Lee verschwinden. Und all dies wird sehr bald der Fall sein.
Die eigentliche Herausforderung der KI ist daher das Schaffen einer Gesellschaftsordnung, die in der Lage ist, die Würde der Menschen zu erhalten. Der Markt wird es nicht richten. «Die sich selbst korrigierenden Mechanismen des freien Marktes werden in einer Wirtschaft, die von KI getrieben wird, zusammenbrechen», so Lee. «Tiefe Arbeitskosten haben keinen Vorteil gegenüber Maschinen, und Daten-Monopole werden sich fortwährend am Leben erhalten.»
Es wird daher noch sehr viel menschlichen Verstand und noch mehr Empathie brauchen, wenn wir nicht in einem dystopischen Techno-Oligopol enden wollen. «Ich will nicht in einer neuen technischen Kastengesellschaft leben, in der sich eine KI-Elite abschottet, in unvorstellbarem Luxus lebt und den Rest der Menschheit mit Krümeln abspeist», so Lee. «Ich möchte in einer KI-Welt leben, die für alle Wohlstand kreiert. In einer Gesellschaft, die mehr Mitgefühl und Liebe hat.» Dass Lee zuerst an Krebs erkranken musste, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, ist eine andere Geschichte.