So, du glaubst also, den USA gehe es mies?
«So, you wanna be a Rock'n'Roll-Star. Then listen now, what I have to say», sangen einst die Birds in den Sechzigerjahren. In Anlehnung an den Song der legendären Rockband lässt sich heute sagen: «So, du glaubst tatsächlich, die USA seien am A…? Dann hört mal zu, was euch Fareed Zakaria zu erzählen hat.»
Zakaria ist ein führender amerikanischer Intellektueller. Er hat eine wöchentliche TV-Sendung bei CNN, verfasste verschiedene Bücher zu geopolitischen Themen und hat soeben mit einem eindrücklichen Essay in «Foreign Affairs» den verschobenen Blick auf die USA geradegerückt.
Die USA-sind-im Niedergang-Version des Bird-Songs ist ein Hit. Wladimir Putin wiederholt ihn unablässig, Xi Jinping jodelt ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit herunter, und verschiedene Staatschefs des Globalen Südens trällern gerne mit. (Auch ein strammes Trüppchen von watson-Usern stimmt ihn mit tödlicher Sicherheit an, wenn die Rede von den USA ist.)
Vor allem jedoch sind es die Amerikaner selbst, die überzeugt sind, dass sie zu den Verlierern gehören. Umfrage um Umfrage fördert zutage, dass eine Mehrheit glaubt, dass die Wirtschaft in der Mitte dieses Jahrhunderts nicht mehr so gut in Fahrt sein werde wie heute, dass es ihren Kindern dereinst schlechter gehen werde als ihnen und dass sich das Land auf dem Holzweg befindet.
Donald Trump hat das Seine zur miesen Stimmung beigetragen. 2016 hat er in seinem Wahlkampf permanent wiederholt, wie desolat die Lage im Land sei und über wie wenig Respekt die US-Regierung im Ausland verfüge. Höhepunkt der Trump’schen Klage-Orgie war seine legendäre Antrittsrede, in der er gar von einem «amerikanischen Gemetzel» fabulierte.
Die aktuelle Politik in Washington bietet tatsächlich kein erbauliches Bild, um es sehr milde auszudrücken. Das sich immer und immer wiederholende kindische Gerangel um das Staatsbudget, die im letzten Moment verhinderten Shutdowns der Verwaltung, das schäbige Verhalten der Republikaner in der Hilfe für die Ukraine, und die Möglichkeit, dass ein notorischer Lügenbold mit einem Hang zum Faschismus wieder ins Weisse Haus einziehen könnte – all dies liefert reichlich Stoff für den USA-im-Niedergang-Song.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere formuliert Zakaria wie folgt:
Zum gleichen Ergebnis ist übrigens im Frühjahr auch das Wirtschaftsmagazin «Economist» gekommen. Und übrigens: Der Dow Jones Index hat soeben einen neuen Rekordwert erzielt.
Wer immer somit die USA abschreiben will, muss sich daher die folgenden sechs Punkten vor Augen führen:
- Die US-Wirtschaft ist heute noch stärker als nach dem Fall der Mauer von Berlin. Von den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt befanden sich 1989 nur vier in den USA, heute sind es neun.
- Wer die These, wonach sich China auf der Überholspur befinde, vertritt, muss beachten, dass im laufenden Jahr in den USA 26 Milliarden Dollar in Künstliche-Intelligenz-Startups investiert wurden, sechsmal mehr als in China.
- Wer es bisher noch nicht bemerkt hat: Nicht Saudi-Arabien oder Russland sind derzeit die grössten Ölförderer, sondern die USA (ökologisch gesehen kein Ruhmesblatt, ich weiss).
- Für alle, welche den «mächtigen Dollar» vom Thron stürzen wollen, gilt: Träumt weiter. Der Greenback ist und bleibt die führende Leitwährung, und dürfte es noch lange bleiben.
- Die Überalterung ist in Europa, Japan und China weit ausgeprägter als in den USA. Dank Zuwanderung wird die amerikanische Bevölkerung weiter wachsen und im Durchschnitt jünger bleiben als in den erwähnten anderen Gebieten.
- Schliesslich zum Lieblingsthema aller konservativen Ökonomen, den Staatsschulden. Es trifft zu, dass sich die amerikanische Verschuldung in den letzten Jahren massiv erhöht hat. Trump allein hat rund acht Billionen Dollar neue Schulden angehäuft. Auch im laufenden Jahr beträgt das Defizit rund sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts – ein sehr hoher Wert – , und trotzdem schreit niemand nach einer Schuldenbremse. Das mag zwar unschön sein, doch es stellt in keiner Weise eine existenzielle Gefahr für das Land dar. «Die US-Regierung kann genügend Einnahmen generieren, um ihre Finanzen ins Lot zu bringen, ohne die Steuern massiv zu erhöhen», stellt Zakaria fest. «Ein erster und einfacher Schritt wäre die Einführung einer Mehrwertsteuer.»
Heisst dies, dass die USA weithin die alleinige Supermacht bleiben werden und der Rest der Welt nach ihrer Pfeife tanzen muss. Keineswegs. Die Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt ist da und wird sich weiter verstärken. Daran werden sich die USA gewöhnen und sich anpassen müssen. Sie werden jedoch auch in dieser Welt die führende Leitmacht bleiben – es sei denn, die Amerikaner schiessen sich selbst ins Knie und kapseln sich vom Rest der Welt ab.