Einen Backflip in den Präsidentenpool, ein Klavierspiel in der Regierungsresidenz: Die Bilder aufgebrachter Sri Lanker, die die Residenz des Präsidenten einnahmen, gingen um die Welt.
Die 22 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Inselstaates erleben derzeit die schlimmste Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit von Grossbritannien 1948. Sri Lanka ist bankrott. Die Regierung hat keine Devisen mehr, um Güter zu importieren. Es fehlt an allem. Seit Monaten gibt es kaum Treibstoff, es mangelt an Gas zum Kochen. Die Preise für Lebensmittel und Medikamente sind explodiert. Und immer wieder fällt stundenlang der Strom aus.
«Es herrscht pures Chaos», sagt Esther Marthaler, Helvetas Regionalkoordinatorin für Sri Lanka. «Die Menschen sind verzweifelt. Besonders jene auf dem Land. Sie haben nicht mehr genug zu essen und können wegen fehlenden Benzins nirgendwo mehr hin. Auch Medikamente gibt es kaum mehr.»
Auch Marthaler, die noch im Mai in Sri Lanka war, spricht von der schlimmsten Krise seit der Unabhängigkeit 1948. Arbeiten vor Ort sei schwieriger geworden. «Man muss sich die Arbeitstage um die Stromausfälle herumplanen. Und wenn man Lebensmittel oder andere Güter besorgen will, muss man dafür mehrere Stunden einberechnen.»
Viele kleine Puzzleteile führten zur grossen Staatskrise. Viele Güter des täglichen Bedarfs werden importiert. Doch weil das Land hoch verschuldet ist, kann es nicht mehr importieren. Und was an Lebensmitteln im Land produziert wird, kann nicht mehr verteilt werden, weil der Sprit für den Transport fehlt. «Die Lieferketten in die Provinzen sind zusammengebrochen», erklärt Marthaler.
Kommt hinzu, dass die Regierung unter Präsident Gota Rajapaksa beschloss, nur noch biologischen Landbau zu betreiben. «An sich eine gute Initiative, doch sie kam zu schnell. Sie führte dazu, dass an vielen Orten 50 Prozent der Ernte ausfällt, weil die Bauern plötzlich ohne Vorwissen und ohne Pestizide anpflanzen müssen. Das meiste Gemüse wird in Sri Lanka in einer Region produziert. Momentan kann dort jedoch fast nichts geerntet werden.» Auch wer sich mittels Eigenproduktion ernähre, sei jetzt am Anschlag.
Und die Missernten schlügen sich auch auf den Export nieder, so Marthaler weiter. Sri Lanka, ein wichtiger Tee-Lieferant, exportiert derzeit massiv weniger Tee und in schlechterer Qualität, womit wichtige Einnahmen wegfallen.
Auch der Tourismus, ein wichtiger Devisengeber, ist komplett zusammengebrochen – dies schon seit Beginn der Pandemie. Zudem stellte die Regierung von Präsident Rajapaksa Steuersenkungen als Wahlversprechen in Aussicht. Dieses wurden auch eingelöst. Worauf noch weniger Geld in die Staatskasse floss.
Alle diese Punkte führen dazu, dass es an allen Ecken und Enden fehlt. In den letzten Wochen habe sich die Situation weiter zugespitzt. «Die meisten Menschen müssen wegen wiederholter Ausgangssperren und fehlendem Treibstoff zu Haus ausharren. Dort haben sie kaum mehr das Nötigste zum Leben und wissen nicht mehr weiter», so Marthaler.
Die Wut und Verzweiflung schweisst die Bevölkerung zusammen. Marthaler spricht von einer «ungewöhnlichen nationalen Einheit» über alle ethnischen Gruppierungen hinweg. Man ist sich einig: Schuld an der Misere ist die Elite um Präsident Gotabaya Rajapaksa, welche das Land seit zwanzig Jahren beherrscht und sich bereichert.
Seit Monaten fordern Demonstrierende mit dem Slogan «Gota, Go Home» den Rücktritt des Präsidenten. Vergangenes Wochenende kam es zum Eklat: Hunderte Menschen verschafften sich während einer Demonstration in Colombo Zugang zur Residenz des Präsidenten. Dort machten sie es sich auf den Ledersofas breit und genossen die Abkühlung im Pool.
Überstanden sei die Krise noch länger nicht, sagt Marthaler von der Schweizer NGO. «Die wirtschaftlichen Probleme lassen sich nicht auf die Schnelle lösen, viele junge Menschen wollen das Land verlassen.» Doch es bestehe Hoffnung. «Die Krise könnte auch positive Veränderungen anstossen. Denn es gibt progressive Kräfte, die wirklich die Bedürfnisse der Bevölkerung aufnehmen wollen.»
Kommenden Mittwoch will das Parlament Sri Lankas einen neuen Präsidenten wählen. Und auch Premierminister Ranil Wickremesinghe bot seinen Rücktritt an. Ob dieser tatsächlich seinen Posten räumen wird, ist jedoch noch unklar.