George Santos hat weder die Elite-Schulen noch die Elite-Universitäten besucht, die er in seinem Lebenslauf auflistet. Er hat weder bei Goldman Sachs noch bei der Citigroup gearbeitet. Er hat auch nicht im Volleyballteam der Elite-Schule mitgemacht. Seine Eltern sind nicht beim Attentat auf das World Trade Center umgekommen, seine Grosseltern nicht dem Holocaust entronnen und seine Mitarbeiter nicht bei einem Amoklauf in einem Schwulen-Club in Orlando (Florida) ums Leben gekommen.
Santos ist auch nicht jüdisch, wie er vorgegeben hat, auch nicht «jew-ish», wie er etwas unbeholfen korrigierte. Zudem scheint er einen üblen Charakter zu haben. Leute, die mit ihm zu tun hatten, berichten, sie seien von ihm bestohlen worden. Er soll gar das Geld, das er für einen obdachlosen Veteranen für die Operation dessen Hundes gesammelt hatte, unterschlagen haben.
Vielleicht ist Santos, sofern er überhaupt Santos heisst, mehr als ein Kleinkrimineller. Mehrere Untersuchungsbehörden beginnen sich dafür zu interessieren, wie er 700’000 Dollar für seinen Wahlkampf aus dem eigenen Sack bezahlen konnte. Im Jahr zuvor hatte er ein Jahreseinkommen von bloss 50’000 Dollar ausgewiesen. Zudem war er für einen Fonds tätig, gegen den nun wegen eines Schachtelbetrugs in Millionenhöhe ermittelt wird.
Kurz: George Santos ist ein politischer Hinterbänkler und möglicherweise ein Betrüger. Auf jeden Fall ist er ein Hochstapler – und gerade deswegen ist er zu einer Person geworden, welche seit Wochen die Fantasie der Menschen nicht nur in den USA, sondern weltweit beherrscht. Weshalb?
Eine auf der Hand liegende Erklärung lautet, Hochstapler habe es immer schon gegeben und sie hätten stets die Menschen fasziniert. Als Beleg für diese These wird das Beispiel von Carl Friedrich von Münchhausen angeführt. Dieser legendäre Lügenbaron hat mit Prahlereien – etwa, er habe sich am eigenen Schopf aus einem Sumpf gezogen oder er sei auf einer Kanonenkugel geritten – die Menschen im 18. Jahrhundert in seinen Bann gezogen.
Eine weitere Erklärung ist die Kleider-machen-Leute-These. Pullover mit einem Rundhalsausschnitt, ein blauer Blazer, ein auffälliges Halstuch und ein brauner Kaschmirmantel sind Santos' Markenzeichen geworden. Das ist kein Zufall. «Es ist die Uniform eines Schülers, für den Mathematik und Grammatik zwar zur Ausbildung gehören, dessen ultimatives Ziel jedoch darin liegt, an die Macht zu kommen», stellt Robin Givhan in der «Washington Post» fest.
Zur Schuluniform gesellt sich bei Santos noch das Fehlen jeglichen Unrechtsbewusstseins. Der Mann ist völlig schamlos. Er protestiert zwar, wie er in den Medien dargestellt wird. «Doch er tut dies mit einer Haltung eines Mannes, der sich gemütlich in seiner Schande einrichtet», so Givhan.
Um das Phänomen George Santos zu erfassen, ist die Münchhausen-These zu allgemein, und die Kleider-machen-Leute-These greift zu kurz. Sam Bankman-Fried (SBF), ein Hochstapler, der Santos um ein Vielfaches übertrifft, ist ebenfalls seit Monaten in den Schlagzeilen. Und der seit Bernie Madoff mutmasslich grösste Betrüger in den USA ist alles andere als ein Mann, der Wert auf sein Aussehen legt. Sein Markenzeichen sind kurze Hosen und ein Wuschelkopf.
Daher ist es naheliegend, nach anderen Ursachen zu suchen, die dafür sorgen, dass Lügenbarone in unserer Zeit so leichtes Spiel haben. Einer, der dies getan hat, ist Mihir Desai, Finanzprofessor an der Harvard University. In einer Kolumne in der «New York Times» hat er kürzlich das grassierende magische Denken und die Technologie-Gläubigkeit in der modernen Gesellschaft ausgemacht.
Die Kryptowährungen sind für den Finanzprofessor das Paradebeispiel des magischen Denkens. «Ich bin zur Ansicht gelangt, dass Kryptowährungen mehr als ein exotischer Vermögenswert sind», so Desai. «Sie sind vielmehr die Manifestation eines magischen Denkens, das Teile der Generation erfasst hat, die nach der Grossen Rezession aufgewachsen sind – und auch den amerikanischen Kapitalismus generell.»
Der kometenhafte Aufstieg der Krypto-Börse FTX zeigt, wie mächtig das magische Denken inzwischen geworden ist. SBF hat mehr als ein Schneeballsystem aufgebaut, das zwangsläufig irgendwann zusammenkrachen musste. Er hat geschafft, was sonst nur Zentralbanken können: sein eigenes Geld zu kreieren. SBF konnte so innert kurzer Zeit ein Milliardenvermögen anhäufen. Er hat dabei nicht nur arglose Kleinsparer über den Tisch gezogen. Namhafte Grössen der Wall Street sind auf seine Täuschungen hereingefallen, renommierte Finanzschriften haben ihn als JP Morgan der Gegenwart gefeiert.
SBF hat all dies geschafft, obwohl Kryptowährungen bis heute keine der drei Grundfunktionen des Geldes erfüllen. Sie sind weder als Tauschmittel geeignet noch als Recheneinheit und schon gar nicht als Wertspeicher. Wie lässt sich dies erklären?
Desai sieht die Ursache in einer verhängnisvollen Verbindung von magischem Denken, Technologie-Gläubigkeit und Hass auf das Establishment. «Die illusorischen und lächerlichen Versprechen, ein gemeinsames Anti-Establishment-Gefühl, angefeuert von einer Technologie, welche die meisten von uns nicht verstehen. Wer braucht eine Regierung, Banken, das traditionelle Internet oder die Einsicht, dass man nur mit Geld operieren kann, das man auch besitzt?»
Magisches Denken und Technologie-Gläubigkeit haben inzwischen weite Teile der Gesellschaft und der Wirtschaft erfasst. So ist es Elizabeth Holmes gelungen, prominenten Wirtschaftsvertretern und Politikern vorzugaukeln, sie habe mit Theranos das iPhone des Gesundheitswesens entwickelt. Oder Wework-Gründer Adam Neumann hat dank Techno-Speak das banale Vermieten von Büroräumen zu einer technologischen Sensation emporstilisiert. Desai weist zu Recht auch darauf hin, dass Google und Facebook trotz allem Techno-Glamour letztlich nicht mehr sind als gigantische Werbeagenturen.
Mit der Kombination von magischem Denken und Technologie-Gläubigkeit ist nicht zu spassen. «Weder neue Technologien noch billiges Geld haben die fundamentalen Wirtschaftsgesetze ausgehebelt», warnt Desai. Alle Versuche, diese Gesetze ausser Kraft zu setzen, haben bisher in Tränen geendet.