Mit ihrer Machtübernahme haben die Taliban in Afghanistan erklärt, dass die Scharia, das Islamische Recht, nun über allem steht. Die Scharia ist für viele ein Reizbegriff, auch weil nicht verstanden wird, was er eigentlich bedeutet. Da es die Scharia zudem auch zuvor schon gab, stellt sich die Frage, welche Scharia die Taliban denn eigentlich meinen.
Um das zu verstehen, muss man wissen, was die Grundbedeutung der Scharia ist. «Sie ist ein Normenkodex oder eine normative Orientierung, die beansprucht, islamisch zu sein», sagt der Islamwissenschafter Amir Dziri vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg. Der Normenkodex muss dabei vor allem religiös und göttlich legitimiert sein. Es handelt sich also nicht um ein Gesetz, sondern um eine Interpretation oder das Ergebnis einer Rechtsfindung durch islamische Juristen.
Wie diese Interpretation des Normenkodex dann konkret aussieht, kann sehr unterschiedlich sein. Bei der Auslegung der Scharia geht es zum einen um eine Auslegung von Texten aus dem Koran, und zum anderen um die kulturelle Akzeptanz. «Deshalb ist die Auslegung sehr variabel und sehr unterschiedlich in der islamischen Welt», sagt Dziri.
Wenn bei der Auslegung der Scharia kulturelle Aspekte eine grosse Rolle spielen, könnte man hoffen, dass die neuen Machthaber auf die freiheitlicheren Strukturen in den Städten Rücksicht nehmen könnten. Auch weil die Taliban regierungsfähig sein wollen, weil sie das Land einigen müssen und die Radikalität durch internationale Einbindung gebremst werden könnte. «Ich bin eher skeptisch, weil die Taliban in ihrer ersten Regierungszeit zwischen 1996 und 2001 einen sehr rigiden und rigorosen Normenkodex durchgesetzt und damit das Sozialverhalten stark eingeschränkt haben», sagt der Islamwissenschafter. Zudem müsse man sehen, was die Taliban erfolgreich gemacht habe. Das sei die Verknüpfung von Ideologie und militärischer Strategie. Wenn sie nun davon abrückten, würde sie das in ihren Augen unglaubwürdig machen.
Im Grundsatz ist der wichtigste Punkt der Scharia eigentlich gar nicht der Sozialbereich. Entscheidend sind aus der Tradition heraus der Bereich des Gottesdienstes, das heisst religiöse Liturgie: das Gebet, das Fasten, Almosenspenden und die Pilgerfahrt. Aber die islamische Normauslegung betrifft auch Bereiche, die sozial und gesellschaftlich relevant sind, etwa wie Ehe- und Familienrecht, Erbrecht, Handelsrecht oder Strafrecht. Da geht es darum, das Sozialverhalten zu organisieren mit einer Reglementierung nach islamischen Vorstellungen. Dazu gehören auch das Rollenverständnis von Mann und Frau, Sittenvorstellung, Kleider- und Essgebote. Wenn repressive politische Systeme die Scharia zum massgebenden Regelungsinstrument des menschlichen Lebens erheben, dann ist das zumeist von starken Einschränkungen von Freiheitsrechten begleitet.
Aufgrund der Tradition der Taliban ist also mit einer rigoroseren Interpretation und einer repressiveren Umsetzung zu rechnen. «Man sieht das schon an der klaren Zuordnung von Geschlechterrollen und strengen Sittengesetzen. Zum Beispiel wird wahrscheinlich das Musik hören sehr stark reglementiert, wie auch nicht-islamische Literatur, alles was dem Islam-Verständnis der Taliban widerspricht», sagt Dziri.
Grundsätzlich müsse man verstehen, dass es in Afghanistan eine unterschiedliche Vorstellung von politischer Kultur und gesellschaftlicher Ordnung gebe als bei uns. Dabei hängt nicht alles mit der Religion und damit mit der Scharia zusammen, wie Dziri erklärt. Stammesgesellschaften haben einen grossen Einfluss. So gibt es das Paschtunwali, den Ehrenkodex der Paschtunen, einer Bevölkerungsmehrheit in Afghanistan. Dieser Ehrenkodex kann in starkem Widerspruch zum islamischen Kodex stehen.
Ein Beispiel sind Vorstellungen des Ehrverhaltens von Frauen, die so etwa von einer Mehrzahl muslimischer Gelehrter nicht geteilt werden. «Manche sagen, das Paschtunwali sei bestimmender in der afghanischen Gesellschaft als islamische Normvorstellungen. Beides vermengt sich, stösst meist in die gleiche Richtung, kann sich aber auch widersprechen», sagt Dziri. Das unterstreicht, dass die von den Taliban verkündete Scharia von der kulturellen Akzeptanz abhängt.
Da die Scharia der Taliban aber die gleiche rigorose Stossrichtung wie das Paschtunwali hat, sind die Prognosen für die afghanischen Frauen niederschmetternd. Diese haben in den letzten zwei Jahrzehnten nach der ersten Taliban-Herrschaft an Freiheitsräumen gewonnen, Schulen wurden errichtet, der Zugang zu Bildung für Mädchen und Frauen möglich. Nun müssten sie fürchten, nicht mehr arbeiten zu dürfen und werden keine Möglichkeit haben, an der Entwicklung von Machtstrukturen teilzuhaben. Femininer Widerstand gegen diese Auslegung der Scharia wird schwierig sein. Im Iran gebe es das vereinzelt, sagt Dziri. Aber die Frauen könnten sich nur in einem bestimmten Rahmen bewegen, der gesellschaftlich noch akzeptabel erscheine. Die Taliban werden sicherlich versuchen, jeden Widerstand zu unterdrücken.
Doch die Scharia muss nicht solche Folgen haben wie in Afghanistan, wenn sie mit einer säkularen Rechtsprechung vereint wird. «Das sind eigentlich zwei ganz unterschiedliche Konzepte. Das eine baut auf Volkssouveränität auf, das andere auf Gottessouveränität. Konzeptionell sind sie nicht vereinbar, versteht man Scharia als ein politisches System», sagt Dziri. Trotzdem gebe es genug muslimische Länder, die zeigten, dass es durchaus möglich sei, dass eine islamische Ethik in einem säkularen Staat funktioniert. Dziri sagt:
Die meisten muslimischen Länder haben säkulare Rechtsordnungen übernommen. Viele versuchen eine Mischform zu etablieren, bei der säkulares Recht die gesetzliche Ebene bestimmt, auf einer ethischen Ebene aber bestimmte islamische Normvorstellungen umgesetzt werden. Das kann manchmal zu Konflikten führen so wie beispielsweise bei einer Erbrechtsreform in Marokko, in dem sich weltliche und islamische Kontrahenten gegenüberstanden. «Das Beispiel zeigt. In der muslimischen Welt geht es letztlich auch darum, in einem Deutungskampf zu bestimmen, was Scharia eigentlich bedeutet. Es ist eben kein Gesetz, sondern Rechtsmeinungen, Empfehlungen und Vorstellungen, die je nach politischer Struktur und kultureller Akzeptanz unterschiedlich umgesetzt werden», sagt Amir Dziri von der Universität Fribourg.
Ist doch bei der Bibel und eigentlich allen religiösen Schriften auch nicht anders.