248 Kilometer lang verläuft die bestbewachte Grenze der Welt quer über die koreanische Halbinsel. Sie trennt zwei verfeindete Bruderstaaten, die ungleicher kaum sein könnten: Im Norden das nahezu hermetisch abgeschottete Nordkorea, das von der bereits dritten Diktatorengeneration der Kims mit eiserner Faust beherrscht wird; im Süden das wohlhabende Südkorea, das in der Rangliste des Human Development Index (2021) noch vor den USA liegt.
Die beinahe vollkommen undurchlässige Grenze zwischen zwei Staaten und zwei Systemen wird immer wieder zum Schauplatz bizarrer Propagandaaktionen. So sorgte etwa das Regime von Kim Jong-un Ende Mai weltweit für Schlagzeilen, als es mit Müll beladene Ballone über die Grenze nach Südkorea fliegen liess. Südkorea antwortete umgehend mit der Wiederaufnahme der Beschallung des Nachbarlandes mit Propaganda-Botschaften.
Wie kam es zu dieser monströsen Grenze und wie hat sich der Propagandakrieg zwischen Pjöngjang und Seoul entwickelt?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Korea, seit 1910 japanische Kolonie, von den USA und der Sowjetunion besetzt. Die Siegermächte übernahmen die treuhänderische Verwaltung des Landes von der UNO und teilten es entlang des 38. Breitengrades unter sich auf. Aus diesen Besatzungszonen entstanden 1948 im beginnenden Kalten Krieg zwei Staaten, die beide Anspruch auf die gesamte Halbinsel erhoben.
Diesen Anspruch versuchte Nordkorea 1950 – nach dem Abzug der Besatzungstruppen – mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Der Überfall auf den Süden führte zum Koreakrieg (1950–1953), in dem Südkorea von UNO-Truppen unter Führung der USA unterstützt wurde, während die Sowjetunion und die Volksrepublik China dem Norden zur Seite sprangen. Das dreijährige Gemetzel endete ohne Friedensvertrag; die beiden koreanischen Staaten befinden sich offiziell immer noch im Kriegszustand.
Die aktuelle Grenze zwischen den verfeindeten Staaten ist die Waffenstillstandslinie, sie entspricht dem Status quo nach dem Ende der Kampfhandlungen am 27. Juli 1953. «Grenzlinie» ist allerdings ein irreführender Ausdruck – in Wahrheit handelt es sich um einen etwa vier Kilometer breiten Grenzstreifen, die sogenannte Demilitarisierte Zone (DMZ). Die DMZ selbst ist entmilitarisiert, doch nördlich und südlich davon sind waffenstarrende Truppenkontingente stationiert. Die schwer befestigte Systemgrenze erinnert an die innerdeutsche Grenze während des Kalten Krieges.
Bekanntester Ort innerhalb dieses Grenzsaums ist die gemeinsame Sicherheitszone, die nach dem zerstörten Dorf Panmunjeom benannt ist. Dort befinden sich die bekannten blauen Konferenzbaracken, die exakt auf der Waffenstillstandslinie liegen; Touristen können dort quasi einen Kurzausflug auf nordkoreanisches Territorium unternehmen, ohne die Baracke zu verlassen. Die Zone wird von den beiden Koreas für diplomatische Verhandlungen auf neutralem Boden genutzt.
Im Kampf der Systeme spielte und spielt Propaganda eine wichtige Rolle. Besonders das diktatorische Regime in Nordkorea nutzt dieses Mittel, und zwar in der Hauptsache zur Beeinflussung der eigenen Bevölkerung. Die nordkoreanische Propaganda besteht vornehmlich in der Bejubelung der Errungenschaften der Einheitspartei PdAK, in einem beispiellosen Personenkult um die Kim-Dynastie und in der Dämonisierung der USA und Südkoreas, das als amerikanischer Marionettenstaat dargestellt wird.
Zu Beginn zeichnete die nordkoreanische Propaganda den südlichen Rivalen als verarmtes Land, das von grausamen Diktatoren beherrscht wird und in dem amerikanische Soldaten koreanische Frauen und Kinder drangsalieren. Seit den Neunzigerjahren ist dies nicht mehr möglich, weil selbst im abgeschotteten Norden zu viel Informationen über den wirtschaftlichen Aufschwung und den Lebensstandard Südkoreas sowie die politische Freiheit dort verfügbar sind.
Das nach dem Krieg stark zerstörte Südkorea, das damals wirtschaftlich auf einer Stufe mit dem Sudan stand, erlebte einen starken Wirtschaftsaufschwung («das Wunder vom Han-Fluss»), demokratisierte sich aber erst in den Achtzigerjahren. Im Süden war die Propaganda von Anfang an antikommunistisch und darauf ausgerichtet, die massive nordkoreanische Propaganda zu kontern. Sie betont die wirtschaftliche Überlegenheit des Südens, aber auch die ethnische und kulturelle Zusammengehörigkeit des koreanischen Volkes im Hinblick auf eine spätere Wiedervereinigung.
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Propagandaschlacht im Koreakrieg. Die UNO-Truppen sollen über den feindlichen Gebieten die unglaubliche Anzahl von 2,5 Milliarden Flugblättern abgeworfen haben – die Nordkoreaner brachten es dagegen nur auf 30 Millionen.
Während des Kalten Kriegs bediente sich die psychologische Kriegsführung einer Reihe von Mitteln, um der gegnerischen Seite die erwünschte Botschaft zu überbringen. Zu diesem Propagandaarsenal gehörten Ballone, Radiosendungen, gigantische Plakate – später auch riesige elektronische Anzeigetafeln – sowie potente Lautsprecher.
Die Ballone, die vornehmlich von Südkorea eingesetzt wurden, transportierten Flugblätter mit Propagandabotschaften und Waren wie Süssigkeiten, Tabak, Lebensmittel und Pornografie über die Demilitarisierte Zone hinweg. Später kamen auch elektronische Datenträger dazu, die in Nordkorea verbotene Medieninhalte enthielten – etwa Filme oder Kopien der koreanischen Wikipedia. Die selteneren Ballonkampagnen des Nordens übermittelten dagegen eher klassische nordkoreanische Propaganda. Und verschiedentlich transportierten die nordkoreanischen Ballone auch Müll, so im Jahr 2016 und kürzlich wieder im Mai und Juni.
Die Ballonkampagnen des Südens waren bis zum Beginn der Sonnenscheinpolitik Ende der Neunzigerjahre staatlich organisiert – für jene des Nordens trifft dies ohnehin vollumfänglich zu. Danach kam es nur noch selten zu staatlich unterstützten Kampagnen aus dem Süden; die jeweiligen Wiederaufnahmen und Stopps dieser Aktionen widerspiegeln die Eiszeiten und Tauwetterperioden zwischen Seoul und Pjöngjang.
Anstelle des südkoreanischen Staates organisieren jedoch bis heute diverse NGOs und private südkoreanische Gruppen solche Ballonaktionen. Darunter befinden sich neben geflüchteten Nordkoreanern auch evangelikale Gruppierungen. Kim Jong-uns Schwester Kim Yo-jong beschimpfte die Absender solcher Ballone 2020 in einer offiziellen Verlautbarung als «menschlichen Abschaum» und «Bastardhunde». Die südkoreanische Regierung sei als «Besitzer der Bastardhunde» für deren Aktionen verantwortlich.
Seit Ende 2020 verbietet ein südkoreanisches Gesetz die Entsendung von anti-nordkoreanischem Material über die DMZ hinweg. Es soll verhindern, dass Nordkorea provoziert wird, und stabile Beziehungen zum Nachbarstaat gewährleisten – denn das nordkoreanische Regime, das seiner Bevölkerung den Zugang zu ausländischen Nachrichten untersagt, betrachtet Ballonentsendungen und Lautsprecherdurchsagen als schwere Provokation. Kritiker des südkoreanischen Gesetzes sehen darin jedoch ein Zurückweichen vor Drohungen aus Pjöngjang und eine Verletzung der Meinungsfreiheit.
Nach der jüngsten nordkoreanischen Müllsendung per Ballon – die Pjöngjang als Vergeltung für Ballonaktionen südkoreanischer Aktivisten darstellte – stellte Südkorea zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder riesige Lautsprecher entlang der DMZ auf. Über die Grenze dröhnten zwei Stunden lang neben Nachrichten, Wettervorhersagen und Kritik am nordkoreanischen Raketenprogramm auch Mega-Hits der K-Pop-Boygroup BTS wie «Butter» und «Dynamite».
K-Pop, Filme und TV-Soaps südkoreanischer Provenienz sollen sich im Norden laut Aussagen von geflüchteten Nordkoreanern zunehmender Beliebtheit erfreuen – sehr zum Missfallen des Regimes, das seit der Corona-Pandemie vermehrt versucht, diesen Einfluss aus dem Süden zurückzudrängen. Nordkorea stellte seine Lautsprecher ebenfalls wieder auf, nahm sie bisher jedoch noch nicht in Betrieb.
Die Propagandasendungen aus den Lautsprechern sollen nach südkoreanischen Angaben weit bis nach Nordkorea hinein zu hören sein – tagsüber etwa 10 Kilometer, nachts sogar 24 Kilometer. Umgekehrt seien frühere nordkoreanische Beschallungen in Südkorea nicht deutlich zu hören gewesen.
Obwohl die Propagandaaktionen an der koreanischen Grenze bizarr wirken mögen, sind sie nicht ungefährlich – sie befeuern die ohnehin vorhandenen Spannungen und tragen zum nicht unerheblichen Eskalationspotenzial an der waffenstarrenden Demarkationslinie bei. Als etwa Südkorea 2015 zum ersten Mal seit elf Jahren wieder Beschallungen per Lautsprecher durchführte, wurde dies von Nordkorea mit Artilleriegeschossen über die Grenze quittiert. Der Süden erwiderte das Feuer. Immerhin beruhigte sich die Lage danach; es waren auch keine Todesopfer zu beklagen. Doch der Vorfall zeigt, wie schnell an der koreanischen Grenze aus einem Propagandageplänkel blutiger Ernst werden kann.