Neuer Netflix-«Frankenstein»: Ein Monster wie ein Teddy, der sich zu Halloween verkleidet
«Frankenstein» ist ganz klar Weltkulturerbe. Was für ein Roman! Auch 209 Jahre nach seiner Entstehung noch einer der besten überhaupt, eines dieser Bücher, das man auch erwachsen mit fiebrig heissen Wangen liest, ein grandioses, groteskes, wahnsinniges Abenteuer, ein Schauerroman, ebenso unterhaltsam wie klug und auf jeder Seite von soviel Mitgefühl für Mensch und Monster durchdrungen, dass man vor Liebe nur so dahinschmilzt. Besonders vor Liebe zum Monster. Zur Kreatur. Zur Kreation eines Wissenschaftlers, der im Roman gar nicht so sehr irr ist wie in jeder daraus folgenden Adaption.
Doch erinnern wir uns: Der aus einer geradezu idyllisch glücklichen Familie stammende Genfer Naturwissenschafter Victor Frankenstein entdeckt die Elektrizität für sich, erfindet sowas wie den ersten Defibrillator und erweckt damit ein Patchwork aus Leichenteilen zum Leben.
Womit er nicht gerechnet hat: Das rund 2,4 Meter grosse Wesen hat nicht nur motorische Fähigkeiten, es entwickelt auch Verstand und Empfindungen und realisiert, dass die Menschen, denen es doch nahe sein möchte, mit Angst und Abscheu reagieren. Dass es einsam bleiben muss. Ins Unglück geworfen von seinem Schöpfergott. Es bittet Frankenstein um einen Gefährten oder eine Gefährtin, sein Wunsch bleibt ihm verwehrt, da wird es böse und tötet alle, die Frankenstein liebt.
Der ganze Roman ist ein Briefroman – ein britischer Kaufmann nimmt den todkranken Victor Frankenstein auf seinem Expeditionsschiff in der Arktis auf und dokumentiert dessen unglaubliche Geschichte für seine Schwester. Seine Briefe nach Hause bilden einen geschickt mit Cliffhangern operierenden Fortsetzungsroman. Was wiederum mit der Entstehungsgeschichte von «Frankenstein» oder «Der moderne Prometheus» zusammenhängt: Er wurde nämlich im gespenstisch verdunkelten Jahr 1816 in einer Kreativ-Kommune am Genfersee gesponnen.
Fünf exzentrische junge Britinnen und Briten lebten dort miteinander in einer Villa und liebten sich durcheinander. Sie erzählten sich beim Eindunkeln Schauergeschichten. Und die erst 18-jährige Mary Shelley erzählte, wie Victor Frankenstein einem Kaufmann seine Geschichte erzählt und dieser sie seiner Schwester weitererzählt. Wie ein Märchen. Denn das ist die Geschichte von der wundersamen Menschwerdung eines Flickwerks aus Toten am Ende, nichts anderes.
Da ist viel Fantastisches, aber auch viel Feinstoffliches und Philosophisches, und das ganze Buch ist am Ende genau so sehr Mary Shelleys «abscheuliche» (ihr Wort) und dennoch heissgeliebte Schöpfung, wie das Monster Frankensteins Ausgeburt ist. Fiktion wird lebendig. Das Buch und sein Monster sind grauenhaft grandios.
Langer Einleitung kurzer Sinn: Wer Mary Shelleys Roman liebt, wird von Guillermo del Toros neuem «Frankenstein»-Film bitterlich enttäuscht sein. Was für ein kruder, seelenloser Quatsch. Aber er sieht gut aus, ein pompöses Getöse. Bis auf die KI-generierten Tiere, die sind grauenhaft schlecht. Leider auch schlecht: die beiden Hauptdarsteller – Oscar Isaac ist ein komödiantisch überdrehter Frankenstein (er hat definitiv zu oft die «Sherlock»-Filme mit Robert Downey Jr. geschaut), und Jacob Elordi taugt nun wirklich nicht zum Monsterdarsteller, er kann das Unheimliche kaum, er wirkt zu oft wie ein Teddy, der sich zu Halloween verkleidet.
Superb sind dagegen die Nebenfiguren: Christoph Waltz ist als Frankensteins reicher österreichischer Sponsor (sämtliche Rahmenhandlungen sind ein bisschen oder frei erfunden) für einmal nur dezent exzentrisch, eine Wohltat. Und Horror-Ikone Mia Goth als von Mensch und Monster begehrte Elizabeth ist ein ätherisches, aber dennoch bestimmtes Wesen aus einem präraffaelitischen Tableau. Waltz, der bald auch in «Dracula» von Luc Besson zu sehen sein wird, und Goth haben beide nicht sehr viel Spielraum, doch den füllen sie mit äusserster Differenziertheit, Ernsthaftigkeit und Intensität – und sofort ist man bei ihnen und tief in ihren hoffnungslosen Geschichten. Den anderen schaut man von aussen zu.
Wobei es genau dieses Aussen ist, was del Toro weit mehr interessiert als das Innen: Er verbringt exzessiv viel seiner zweieinhalb Stunden mit Frankensteins Leichenklempnerei und seinem überdekorierten Labor. Überhaupt wird überinszeniert, was das Zeug hält, die Kostüme von Mia Goth, die Beerdigungen von Frankensteins Eltern sind sensationell bebildert – man weiss bloss nicht wozu, das verbindende Nervensystem fehlt.
Und jede Uneindeutigkeit wird aus der Welt geschafft. Victor kommt nicht aus einer liebevollen Familie wie im Roman, nein, er wurde als Kind von seinem strengen Vater (Charles Dance) misshandelt, weshalb er auch zu seinem eigenen «Sohn» brutal sein muss, schliesslich hat Gott Jesus auch nicht vor dem Kreuz bewahrt. Und so weiter. Und wenn es mal still zu werden droht, kommt Action. Woher und wieso? Egal. Und wenn es mal um Gefühle gehen soll, kommt ein Sonnenuntergang, dieser unsterbliche Topos aus dem Reservoir des Kitsch.
Man kann das machen. Man kann einem historischen Stoff ein historisches Gewand geben und alle Energie in dieses Gewand stecken. Auch Robert Eggers hat dies bei «Nosferatu» exzessiv exerziert, allerdings mit einer anderen Hingabe ans Original als del Toro.
«Frankenstein» war bei seiner Entstehung so futuristisch und avantgardistisch wie überhaupt nichts anderes. Vielleicht hätte es sich gelohnt, dies zu reflektieren. Kunst ist am besten, wenn sie auch ein Spiegel ist. Doch vielleicht wollte del Toro auch einfach eine weitere Fassung seines «The Shape of Water» und seines «Pinocchio» machen, wollte sein Netflix-Fliessband der Monsterfilme mit Herz bedienen und die ganze, eigentümliche, überwältigende innere Kraft von «Frankenstein» war ihm ein bisschen egal. Schade.
«Frankenstein» läuft ab dem 23. Oktober kurz im Kino und ab dem 7. November auf Netflix.
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