Die Geschichte von Jason Padgett ist eine spezielle. Sie nimmt ihren Lauf am 13. September 2002.
Der 32-jährige College-Abbrecher Padgett, der seinen Lebensunterhalt unterdessen als Betten-Verkäufer verdient, begibt sich mit Freunden in eine Karaoke-Bar in der Stadt Tacoma im US-Bundesstaat Washington.
Doch statt eines lustigen Abends mit Freunden erwartet ihn vor der Bar eine üble Prügelattacke. Zwei Männer greifen Padgett von hinten an und traktieren ihn mit Schlägen und Tritten, unter anderem auf den Hinterkopf. Erst als er den Angreifern seine Lederjacke aushändigt, hören sie mit der Gewalt auf, wie Focus schreibt.
Padgett wird daraufhin verletzt ins Spital gebracht. Da er «nur» eine schwere Gehirnerschütterung und eine Nierenverletzung erlitten hat, schicken ihn die Ärzte schon in derselben Nacht wieder nach Hause.
Doch die Hiebe und Tritte auf den Kopf lösten noch etwas ganz anderes, vorderhand Unbemerktes, im Gehirn des jungen Mannes aus. Am nächsten Morgen war Padgett nämlich plötzlich vom Fliessen des Wassers aus dem Hahn fasziniert – er sah in der Bewegung des Wassers ein klares geometrisches Muster, welches er vorher nie wahrgenommen hatte.
Es war das erste Anzeichen einer tiefgehenden Veränderung im Gehirn des damals 32-Jährigen. Plötzlich erkannte er überall solche mathematischen Muster in alltäglichen Dingen – sei es in der Anordnung von Fenstern, der Krümmung von Löffeln, ja selbst in den Lichtstrahlen, die an seinem Autofenster reflektierten:
Der US-Amerikaner entwickelte ein immenses Interesse an Mathematik und Physik und verschlang Bücher zu diesen Themen regelrecht – dabei hatte ihn dieses Gebiet früher überhaupt nicht interessiert, wie er selbst sagte.
Besonders eindrücklich war Padgetts neu gewonnene Fähigkeit, sogenannte Fraktale zu zeichnen. Das sind äusserst grazile regelmässige Strukturen, wie sie beispielsweise bei einer Schneeflocke oder den Äderchen eines Blatts vorkommen. Weltweit gibt es nur eine Handvoll Menschen, die ohne technische Hilfsmittel zur Gestaltung solcher Muster fähig sind.
Mittlerweile hält Jason Padgett auch TED-Talks:
Die Ursache für sein komplett verändertes Interesse und Verhalten war Padgett selbst längst auch ein Rätsel. Doch eines Tages sah er im Fernsehen eine BBC-Dokumentation über das Savant-Syndrom. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, bei welchem Menschen eine extreme Begabung in einem einzelnen Bereich entwickeln. Auf Deutsch spricht man auch von Inselbegabung.
Oft sind diese Begabungen angeboren und die Menschen, welche die Fähigkeiten besitzen, häufig anderweitig stark eingeschränkt. So kommt das Savant-Syndrom beispielsweise bei Autisten vor.
Es gibt allerdings auch – sehr wenige – Fälle, bei denen Menschen als Folge einer Gehirnverletzung eine Inselbegabung entwickeln – so geschehen bei Padgett. Weltweit gibt es nur etwa 100 Menschen, die das Savant-Syndrom haben. Und nur ein Bruchteil davon als Folge einer Verletzung.
Dokumentiert sind Fälle von Menschen, die nach einer Gehirnverletzung plötzlich fliessend eine neue Sprache sprechen oder komplexe technische Geräte konstruieren konnten. Was genau das Savant-Syndrom auslöst, ist – wie so vieles im neurologischen Bereich – hingegen noch ungeklärt.
Für Mathe-Genie Padgett war die verhängnisvolle Nacht im September 2002 Fluch und Segen zugleich. Zwar verdient er heute sein Geld, indem er Vorträge zu seiner Geschichte hält und seine geometrischen Muster als Kunstwerke verkauft – andererseits hat er eine Zwangsstörung bezüglich Hygiene entwickelt und wäscht sich seither neurotisch die Hände.
Auf die Frage, ob er sein «altes» Leben gerne zurückhätte, entgegnete der heute 54-Jährige:
Ihn als Genie zu bezeichnen klingt für mich nach Marketing und aufbauschen einer Story - nichts anderes.
Aber denk dran , Gewalt ist keine Lösung.