China rasselt mit dem Säbel. Schon im Vorfeld des Taiwan-Besuchs von Nancy Pelosi – als Sprecherin des Repräsentantenhauses die Nummer 3 in der amerikanischen Nomenklatura – drohte Peking kaum verhohlen mit der Invasion der Insel. Das Verhältnis zwischen den beiden China – der Volksrepublik auf dem Festland und der Republik auf der Insel – ist so angespannt wie seit Langem nicht mehr.
Der Taiwan-Konflikt dauert bereits seit mehr als 70 Jahren an, und er hat das Zeug dazu, zu einem heissen Krieg zu eskalieren – mit unabsehbaren Folgen für die ganze Welt. Der Konflikt ist vielschichtig; eine einfache Lösung ist nicht in Sicht. Warum das so ist, erklärt ein Blick in die Vergangenheit.
Die durch die 180 Kilometer breite Formosastrasse (oder Taiwanstrasse) vom Festland getrennte Insel Taiwan geriet erst relativ spät unter chinesischen Einfluss. Als die Portugiesen 1517 als erste Europäer das Eiland erreichten, lebten dort nur wenige Chinesen, vornehmlich in den flachen Küstengebieten. In der indigenen austronesischen Bevölkerung war noch die traditionelle Kopfjäger-Kultur verbreitet, zumindest bei den Bergstämmen. Die portugiesischen Seefahrer, die die Insel «Ilha Formosa» – die «Schöne Insel» – nannten, gründeten dort keine dauerhafte Siedlung.
Im Gegensatz dazu brachten die Niederländer, die 1624 in Taiwan landeten, grosse Gebiete der Insel unter ihre Kontrolle. Die Niederländische Ostindien-Kompagnie nutzte Taiwan zunächst als Stützpunkt im Handel zwischen Java und Japan, begann dann aber mit der Anwerbung von chinesischen Bauern, um das Land urbar zu machen. Damit setzte die chinesische Einwanderung in grösserem Umfang ein. Die Niederländer profitierten von den chinesischen Siedlern, die sie als Zwischenglied im Handel mit den Ureinwohnern und dem Festland benutzten.
Die Herrschaft der Niederländer dauerte allerdings nicht lange. Bereits 1661 vertrieb der chinesische Warlord und Seeräuber Zheng Chenggong die europäischen Kolonialherren und gründete das kurzlebige Königreich Dongning. Chenggong war ein Anhänger der Ming-Dynastie, die auf dem chinesischen Festland von der Qing-Dynastie gestürzt worden war. Sein Königreich auf Taiwan sollte als Basis für die Wiederherstellung der Ming-Dynastie auf dem Festland dienen – eine Konstellation, die an die Situation nach dem Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg 1949 erinnert: Die unterlegenen Nationalchinesen zogen sich darauf nach Taiwan zurück, um von dort aus das Festland zurückzugewinnen.
Nach Zhengs Tod nutzten die Qing die Instabilität des Königreichs Dongning und eroberten 1683 die Insel. Damit geriet Taiwan erstmals unter die Herrschaft von Festland-China; es wurde als Präfektur der Provinz Fujian einverleibt. Die Qing trieben die Sinisierung der indigenen Bevölkerung voran; die neuen Herrscher richteten chinesische Schulen ein und erliessen 1758 ein Gesetz, das die Einwohner zwang, chinesische Namen anzunehmen und chinesische Kleidung und Haartracht zu tragen.
Der Niedergang der Qing-Dynastie rief die europäischen Kolonialmächte auf den Plan, die China gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr einer halbkolonialen Herrschaft unterwarfen und dem Qing-Reich in den sogenannten Ungleichen Verträgen territoriale und wirtschaftliche Konzessionen abrangen. Europäische Mächte wie Frankreich oder selbst Preussen richteten ihr Augenmerk auch auf Taiwan – doch es war schliesslich Japan, das sich die Insel nach dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg 1895 einverleibte. Die japanische Präsenz auf Taiwan dauerte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Unter japanischer Herrschaft entwickelte sich die Insel wirtschaftlich schnell. Die Wertschöpfung der Industrie stieg bis 1945 um das 1600-fache, während das Festland im Vergleich dazu zurückblieb. Dort mündete die Krise des Qing-Reichs in einer Revolution und dem Ende des Kaiserreichs – 1912 proklamierte der Revolutionär Sun Yat-sen die Republik China. Diese von der Kuomintang (Nationale Volkspartei) geführte Republik war instabil und zerfiel rasch in regionale Herrschaftsbereiche. Sie war zudem einer starken Einflussnahme seitens der europäischen Mächte und Japans ausgesetzt.
In den Zwanzigerjahren erstarkte die zuvor marginale Kommunistische Partei Chinas (KPCh), die zunächst mit der Kuomintang eine Einheitsfront bildete, um die Autorität der Republik in allen Regionen Chinas durchzusetzen. Sobald dieses Ziel in Griffweite rückte, führten die Spannungen zwischen der KPCh und der Kuomintang 1927 zum Ausbruch des Chinesischen Bürgerkriegs, der mit Unterbrechungen bis 1949 dauerte. Die Kommunisten wurden von Mao Zedong angeführt, während General Chiang Kai-shek an der Spitze der Kuomintang stand.
Den nationalchinesischen Truppen unter Chiang Kai-shek gelang es nicht, die Kommunisten entscheidend zu schlagen. Dazu trug auch der japanische Überfall auf China bei, der 1937 begann. Die japanische Invasion führte zwar zu einem Stillhalteabkommen zwischen den Bürgerkriegsparteien, doch die Truppen der Kuomintang trugen die Hauptlast im Abwehrkampf gegen die Japaner, während die Kommunisten ihre Kräfte für die spätere Revolution sparten. Nach der japanischen Kapitulation 1945 flammte der Bürgerkrieg erneut auf und endete 1949 – trotz amerikanischer Unterstützung – mit der Niederlage der Kuomintang.
Die nationalchinesischen Truppen – rund zwei Millionen Mann – zogen sich nach Taiwan zurück, das seit der japanischen Kapitulation de facto wieder unter chinesischer Kontrolle stand (de iure gab Japan die Insel erst 1952 auf). Zuerst hatte Chiang Kai-shek noch mit dem Gedanken gespielt, ein Rückzugsgebiet der Kuomintang im gebirgigen Westen Chinas einzurichten, doch die Vorzüge der durch eine Meeresstrasse vom Festland getrennten Insel gaben den Ausschlag für Taiwan. Nach der «Grossen Flucht» der Nationalchinesen nach Taiwan standen sich zwei China gegenüber: die von Mao Zedong geführte Volksrepublik («Rotchina») auf dem Festland und die Republik China («Nationalchina») auf Taiwan.
Diese beiden China, einander in tiefer Feindschaft verbunden, wurden beide autoritär geführt: Der Koloss auf dem Festland stand unter der Fuchtel der von Mao Zedong dominierten KPCH, während die Kuomintang unter Chiang Kai-shek den Zwerg auf der Insel als Einheitspartei unter der Knute hielt. Beide Staaten erhoben Anspruch darauf, den chinesischen Staat allein und vollumfänglich zu repräsentieren; Peking betrachtete Taiwan als abtrünnige chinesische Provinz, Taipeh sah Festlandchina als illegitim von Kommunisten besetztes Gebiet.
So gab es von beiden Seiten Bestrebungen, die Wiedervereinigung auf militärischem Weg herbeizuführen. Der Taiwan-Konflikt nahm deshalb zu Beginn die Form eines «heissen» Krieges an, wobei es jedoch nie zu einer militärischen Auseinandersetzung mit allen militärischen Mitteln kam. Die Volksrepublik war mit dem Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg und mit der Intervention im Koreakrieg (1950–1953) beschäftigt, während für Nationalchina eine Rückeroberung des Festlandes nur mit amerikanischer Unterstützung denkbar war. Washington gab jedoch diesen Plänen keine Rückendeckung.
1954 und 1958 versuchte die Volksrepublik zweimal, die von Nationalchina kontrollierten Küsteninseln zu erobern; beide Versuche schlugen fehl, auch da die USA Nationalchina unterstützten. Danach beschränkten sich beide Seiten darauf, ihre Stellungen gegenseitig zu bombardieren. In den Sechzigerjahren, als China durch den katastrophal gescheiterten «Grossen Sprung nach vorn» – der die wohl grösste Hungersnot der Weltgeschichte verursachte – geschwächt war, sah Chiang Kai-shek eine Chance, das Festland zurückzuerobern.
Auch diesmal versagten die USA Chiangs selbstmörderischen Plänen, die unter dem Schlagwort «Nationaler Ruhm» liefen, ihre Unterstützung. Danach und verstärkt seit Chiang Kai-sheks Tod 1975 begann sich der Fokus der nationalchinesischen Führung von der Rückeroberung des Festlands auf die Verteidigung und Modernisierung Taiwans zu verschieben – eine Entwicklung, die als «Taiwanisierung» bezeichnet wird. Sie erhielt zusätzlichen Schub durch die aussenpolitische Isolierung Taiwans ab den Siebzigerjahren.
Schon seit Mitte der Sechzigerjahre bröckelte die völkerrechtliche Stellung Nationalchinas zusehends. Die Volksrepublik, die 1964 ihre erste Atombombe gezündet hatte und damit in den exklusiven Kreis der Nuklearmächte aufgestiegen war, wurde von immer mehr Staaten diplomatisch anerkannt – darunter der Schweiz, die schon 1950 als einer der ersten westlichen Staaten diplomatische Beziehungen mit Peking aufnahm. 1971 musste Nationalchina dann seinen Sitz in den Vereinten Nationen und im machtpolitisch bedeutsamen Sicherheitsrat unfreiwillig zugunsten der Volksrepublik räumen.
Im folgenden Jahr gelang es Peking, nach dem Verzicht auf Schadenersatz für Kriegsschäden die Anerkennung durch Japan zu erreichen. Und 1979 nahmen schliesslich auch die USA diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik auf. Aufgrund der Ein-China-Politik beider Seiten musste Washington seine Beziehungen zu Taiwan pro forma abbrechen. Heute erkennen nur noch 14 Staaten Taiwan diplomatisch an.
Zahlreiche Länder pflegen freilich Schattenbeziehungen zu Taiwan; sie unterhalten keine offizielle Botschaft, sondern getarnte Vertretungen. Deutschland tut dies etwa mit dem Deutschen Institut Taipeh, dessen Generaldirektor Diplomat ist. Auch die USA unterhalten eine inoffizielle Vertretung in Taiwan. Überdies liefert Washington Taiwan regelmässig Waffen, um Peking von einer Invasion abzuhalten.
Dieser massive Verlust an diplomatischer Anerkennung führte zu einer innenpolitischen Legitimitätskrise der nach wie vor autokratisch regierenden Kuomintang. So begann in den Achtzigerjahren ein Demokratisierungsprozess unter Chiang Kai-sheks Sohn und Nachfolger Chiang Ching-kuo. Die ehedem straffe Medienzensur wurde gelockert, Oppositionsparteien zugelassen, Notstandsgesetze aufgehoben. 1987 wurde der seit 1949 geltende Ausnahmezustand beendet.
Die Demokratisierung ermöglichte nun auch einen Ausgleich zwischen den in Taiwan geborenen und den vom Festland eingewanderten Chinesen. Nach der Übernahme Taiwans durch die Kuomintang 1945 hatten diese die Taiwaner mit Misstrauen betrachtet, da viele von ihnen in der japanischen Armee gekämpft hatten. Die Korruption und Gewalttätigkeit der neuen Herren führte 1947 zu einem Aufstand, der brutal niedergeschlagen wurde. Dem folgenden sogenannten Weissen Terror fielen bis zu 30'000 Menschen zum Opfer.
Im Jahr 2000 wurde erstmals ein Präsident gewählt, der nicht der Kuomintang angehörte, sondern der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Dieser Umschwung verlieh einer Frage zusätzliche Brisanz, die seither in der Politik Taiwans stets mitschwingt: Welche nationale Identität haben die Taiwaner und welchen nationalen Status hat das Land?
Der Parteienbund um die Kuomintang, das sogenannte blaue Lager, geht nach wie vor von einer chinesischen Identität aus und möchte die Republik China an die Volksrepublik annähern, wobei das Ziel in einer künftigen Wiedervereinigung liegt. Seit einem inoffiziellen Konsens zwischen Taipeh und Peking, der 1992 erzielt wurde, gilt die Sichtweise, dass es ein China, aber verschiedene Interpretationen davon gebe. Dieser Konsens schreibt den Status quo fort. Das grüne Lager hingegen, eine Parteienkoalition um die DPP, betont eine einzigartige taiwanische Identität und strebt eine verstärkte Taiwanisierung mit dem Ziel einer taiwanischen Unabhängigkeit an.
Immer mehr Einwohner der Insel betrachten sich laut Umfragen als Taiwaner; mittlerweile liegt ihr Anteil an der Bevölkerung bei etwa 60 Prozent. Der Anteil jener, die sich als Taiwaner und Chinesen oder nur als Chinesen sehen, nimmt dagegen stetig ab. Die Zeit arbeitet eher für das Pro-Unabhängigkeitslager, da immer weniger Taiwaner noch lebendige Wurzeln auf dem Festland haben und die politischen Systeme der beiden Staaten sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Der chinesische Umgang mit Hongkong treibt zudem viele Taiwaner ins Peking-kritische Lager.
Nach wie vor geht die Volksrepublik von der Ein-China-Doktrin aus, gemäss der es nur ein China gibt. Taiwan ist in dieser Sichtweise eine abtrünnige Provinz, aber nach wie vor ein untrennbarer Teil Chinas. Mit diesem Status quo gibt sich die Führung in Peking zufrieden, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen: Der ökonomisch erfolgreiche Inselstaat – Taiwan ist der weltweit grösste Hersteller von Halbleitern – beliefert auch die chinesische Industrie mit wichtigen Hightech-Komponenten.
Doch Peking gibt klar zu verstehen, dass es eine rote Linie gibt, die nicht überschritten werden darf: die Unabhängigkeit Taiwans. Deshalb haben in den letzten Jahren auch die Spannungen zwischen Taipeh und Peking jeweils dann zugenommen, wenn das grüne Lager in Taiwan an der Macht ist – wie derzeit mit der Präsidentin Tsai Ing-wen von der DPP. Die aktuelle politische Führung in Taiwan strebt zwar die Unabhängigkeit an, muss aber auf chinesische Befindlichkeiten Rücksicht nehmen.
Wie sich der Konflikt weiter entwickeln wird, ist kaum absehbar. Wahrscheinlich ist, dass er sich mittelfristig kaum entschärfen wird, denn die taiwanische Bevölkerung scheint sich immer mehr von ihrer chinesischen Identität zu lösen, während die Volksrepublik, deren Aussenpolitik sich unter dem starken Mann Xi Jinping deutlich aggressiver gestaltet, ein unabhängiges Taiwan weniger denn je tolerieren würde.