«Empört Euch!», hatte 2010 der ehemalige französische Widerstandskämpfer und UN-Diplomat Stéphane Hessel verlangt. Er rief zum politischen Widerstand auf, zur gewaltlosen Revolte, zum zivilen Ungehorsam. Mit zornigen Worten verlangte er während der Finanzkrise, sich wieder auf die Menschenrechte zu besinnen, den Sozialabbau zu stoppen und vor allem dem Finanzkapitalismus den Garaus zu machen.
Mittlerweile ist die Empörung jedoch zum Dauerzustand geworden. Vor allem auf Social Media. Stets begegnet man auf Facebook oder Twitter jemandem, der sich gerade über ein Unrecht empört. Jüngst waren es beispielsweise die Streicheleinheiten der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie galten einem palästinensischen Flüchtlingsmädchen, das sich vor der Abschiebung fürchtete und das dann, emotional aufgelöst, zu weinen anfing. Unter dem Hashtag #merkelstreichelt ging die moralische Entrüstung um die Netz- und Medienwelt: keine Empathie, diese Merkel. Da sieht man es mal wieder. Herzlos. Warum zeigt sie kein Mitleid? Warum sagt sie dem Mädchen nicht, dass es bleiben kann?
#MerkelStreichelt. pic.twitter.com/hQGaCg5jR7
— Daniel Schwerd (@netnrd) 16. Juli 2015
Natürlich bringt Merkels Streicheln dem Mädchen nichts. Aber die Empörung oder ein paar Tausend Likes für einen besonders gelungenen Protest-Kommentar ebenso wenig. Vielleicht wird die Debatte kurz aufgenommen, um dann aber zugunsten der nächsten Empörung gleich wieder zu verstummen. Oder spricht jetzt noch jemand über das Schicksal von Reem Sahwil? Wie lange hält die Empathie, die bei Merkel so vermisst wurde?
Kritik ist wichtig und sie darf niemals abreissen. Aber ist diese reflexartige Empörung eine hilfreiche Art von Kritik? Verändert sie etwas?
Irgendwie werde ich den Verdacht nicht los, dass eine tiefer gehende Auseinande
r setzung mit den eigentlichen Sachverhalten – im Fall von Merkel mit der traurigen Flüchtlingsproblematik – im Lärm der moralischen Entrüstung untergeht.Hinter der einen Empörung lauert schon die nächste. War es gestern noch der fatale Fehlentscheid der KESB, so ist es heute die Tötung des simbabwischen Löwen Cecil.
Disgusting image of Spielberg on hunting trip. Very disappointing. pic.twitter.com/kW8MeNeVyG
— Chris Lunt (@dodgethedraft) 21. Mai 2014
Die Empörten erreichen in ihren Bubbles oft nur sich selbst. Sie sind sich einig darüber, wer die Bösen sind. «Dort, in dem eng begrenzten Raum der Gleichdenkenden, kann die Empörung umso höher kochen, desto weniger sie durch die kritische Zwischenfrage des Andersdenkenden geschwächt wird», formulierte es The European. So verhallen die Rufe nach Gerechtigkeit in den eigenen vier Wänden. Ausser die Medien schalten sich ein und machen einen solchen Shitstorm publik – und nicht selten stimmen wir dabei selbst den Ton moralischer Entrüstung an.
Der deutsche Journalist und Blogger Martin Weigert beschreibt das Phänomen so: «Der sicherste Weg, um sich im öffentlichen Onlinediskurs nicht die Finger zu verbrennen, ist die Übernahme aller internetspezifischen Populärmeinungen und der Verzicht auf jede Äusserung, bei der mit einer massiven Opposition zu rechnen ist.»
Wenn sich aber kaum einer mehr traut gegen den Strom zu schwimmen, weil einen am Ende statt Likes ein Shitstorm erwartet, wenn sich jeder, die in seinem virtuellen Freundeskreis genehme Meinung aneignet, sich dafür vielleicht auch ein bisschen in Selbstzensur übt, ergibt das dann nicht ein verzerrtes Bild der öffentlichen Meinung?
Diejenigen, die es aber dennoch wagen, ihre politisch unkorrekte oder unliebsame Meinung kundzutun, werden dafür hart bestraft.
Ungeachtet der Tatsache, dass viele dieser «Opfer» unsäglichen Stumpfsinn von sich geben, sollte man sich dennoch fragen: Ist es wünschenswert, dass der «Netzmob» Existenzen bedrohen oder gar zerstören kann, die offensichtlich in einen monströsen Fettnapf getreten sind, die schlicht einen unangebrachten Witz machten, aber letztlich keinerlei Bedrohung für die Menschheit darstellen?
Davor sind auch gestandene Wissenschaftler nicht gefeit, wie das Beispiel des britischen Nobelpreisträgers Tim Hunt zeigt. Er riss auf einer Tagung des Weltkongresses der Wissenschaftsjournalisten einen dummen Witz über die Zusammenarbeit mit Frauen im Labor. Der Spruch kostete ihn seine Professur am University College London.
Yes I know I am #distractinglysexy in my Level A PPE. The suit totally flatters my curves. pic.twitter.com/LUb5nXx9yO
— Geeky Girl Engineer (@gkygirlengineer) 11. Juni 2015
Ein renommierter Biochemiker, dessen Forschungen wichtige Impulse für die Krebsforschung lieferten, wird wegen eines Witzes um seine Ämter gebracht. Ein Nobelpreisträger wird geächtet, einer, der im Übrigen gar kein Chauvinist sei, sondern vor allem einen «skurrilen Humor» habe, wie Ingrid Wünning Tschol – die Initiatorin des Frauennetzwerks AcademiaNet – der Zeit verriet. Zum Glück sind damit die tatsächlichen Sexismus-Probleme aus der Welt geschafft.
Der «Netzpöbel» ist zum Hüter von politischer Korrektheit, von Anstand und Gerechtigkeit geworden. Und dieses Mal haben wir die Unmündigkeit auch noch selbst gewählt.
Die Welt ist kompliziert, kalt und weit und sie wird durch die Globalisierung immer noch komplizierter, noch kälter (abgesehen von der Klimaerwärmung natürlich) und noch weiter. Um sie dennoch zu verstehen, bricht man sie herunter auf die einfache Formel: Gut versus Böse. Nur ist das der Anfang der Ideologie und das Ende des Nachdenkens. Die ernsthafte Reflexion wird durch das emotionsgeladene Getöse, die schnelle Entrüstung ersetzt, weil hier einseitige Schuldzuweisungen noch möglich sind.
Ich will damit nicht sagen, dass die Empörung unwichtig ist. Im Idealfall wird mit ihrer Hilfe auf einen Sachverhalt hingewiesen, der sonst untergegangen wäre. Aber durch ihre Schnelligkeit und Kurzlebigkeit verrät sie sich allzu oft als oberflächlich. Wäre sie tatsächlich derart präsent in der Welt, wie sie im Netz ausgelebt wird, stünde an jeder Strassenecke ein Empörter, Schimpftiraden wären zu hören und rote Köpfe zu sehen. Aber da sind keine.
Ich will damit auch nicht sagen, dass politische Korrektheit unwichtig ist. Sprache als Ausdruck unseres Denkens ist mächtig, weil sie unsere Wahrnehmung strukturiert. Und genau deshalb können Wörter gefährlich werden: Wir sehen das immer wieder in der Politik, wo Worte die Ängste der Menschen bündeln, zum Beispiel dort, wo von «Überfremdung», von «Dichtestress» oder von «Asylchaos» geredet wird. Das klingt nach Wissenschaft, nach ausgewerteten Zahlen, nach Objektivität. Aber da ist keine.
Wenn allerdings darüber diskutiert wird, ob man bei einem Spitzensportler davon reden darf, dass er sich zur Homosexualität «bekannt» habe oder ob das schon homophob sei, dann hat die Debatte ein Niveau erreicht, auf dem sich nur noch die Übersensibilisierten und Hyperkorrekten zu Hause fühlen. Dort, hoch über den eigentlichen Adressaten – den Schwulenhassern und religiösen Fanatikern – führen sie ihr exquisites Gespräch und befruchten dabei immer nur sich selbst.
Ich sage nur: KONY. Na, wer erinnert sich...?
Nebst etlichen anderen Passagen, haben es mir u.a. die beiden nachstehenden Zitate angetan :
"Der deutsche Journalist und Blogger Martin Weigert beschreibt das Phänomen so: «Der sicherste Weg, um sich im öffentlichen Onlinediskurs nicht die Finger zu verbrennen, ist die Übernahme aller internetspezifischen Populärmeinungen und der Verzicht auf jede Äusserung, bei der mit einer massiven Opposition zu rechnen ist.»
"Die Welt ist kompliziert, kalt und weit und sie wird durch die Globalisierung immer noch komplizierter, noch kälter (abgesehen von der Klimaerwärmung natürlich) und noch weiter. Um sie dennoch zu verstehen, bricht man sie herunter auf die einfache Formel: Gut versus Böse. Nur ist das der Anfang der Ideologie und das Ende des Nachdenkens. Die ernsthafte Reflexion wird durch das emotionsgeladene Getöse, die schnelle Entrüstung ersetzt, weil hier einseitige Schuldzuweisungen noch möglich sind."