«Wenn du aus diesem Fenster blickst, siehst du den Stern», sagt Nadine*, während sie ihren Arm in Richtung Himmel streckt. Die Koordinaten des Gestirns habe sie als Sterntaufe zur Geburt ihrer Tochter bekommen – ihrer Sternentochter.
Als Sternenkinder, seltener auch Schmetterlings- oder Engelskinder, werden Kinder bezeichnet, die vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben sind.
Vor rund zwei Jahren musste Nadine ihr einziges Kind gehen lassen. Drei Monate vor der Entbindung spürte sie, wie das Herz ihres Fötus noch im Mutterleib aufhört zu schlagen.
Sie ahnte, dass dies passieren könnte. Einige Wochen zuvor ist sie darüber informiert worden, dass ihre Tochter nicht überlebensfähig ist. Ultraschallbilder zeigten einen offenen Rücken, ein verschobenes Herz.
Schon der Weg bis zur Schwangerschaft gestaltet sich steinig, erzählt die Bernerin. Die Bedingungen zwischen Nadine und ihrem Mann sind nicht optimal. Das Paar nimmt deshalb einige Behandlungsmöglichkeiten der Reproduktionsmedizin in Anspruch, darunter mehrere künstliche Befruchtungen (IVF).
«Ich wollte keine Hormoncocktails und habe mich deshalb für eine natürliche IVF-Methode entschieden.» Um die Schwangerschaftschancen zu erhöhen, wird bei IVF-Naturelle der Eisprung mittels einer Spritze eingeleitet – weitgehend wird auf eine Hormonbehandlung verzichtet. Doch das Problem bei Nadine: «Bei mir setzte der Eisprung immer viel zu früh ein. Die Eizellen konnten daher nicht gewonnen werden.»
Nach vier Versuchen wechselte das Paar zur klassischen IVF-Methode. Für Nadine keine schöne Erfahrung: «Ich war vollgepumpt mit Hormonen, die ich mir jeden Tag selbst spritzen musste – während der Arbeit auf der Toilette. Das fühlte sich wie eine Drogenabhängigkeit an.»
Die Behandlung zeigt Wirkung. Dutzende Eizellen können entnommen werden. Eine davon wird eingesetzt, die restlichen eingefroren.
Nadine wird schwanger.
Doch in der zehnten Schwangerschaftswoche tritt bei ihr ein Analabszess ein, eine akute Entzündung, die eine notfallmässige operative Therapie erfordert. Der Eingriff führt zu einem Frühabort. «Das Herz hat schon vor der Operation aufgehört zu schlagen», erzählt Nadine.
«Endlich hat es mit der Schwangerschaft geklappt – und dann das.»
Alleine ist Nadine mit dieser Erfahrung nicht. Schätzungen zufolge endet in der Schweiz jede fünfte Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt, die meisten während der ersten drei Monate. Offizielle Zahlen gibt es nicht, denn eine Fehlgeburt ist nicht meldepflichtig. Zu den häufigsten Gründen zählen der Schweizer Fachstelle Kindsverlust zufolge Fehlbildungen des Kindes sowie im Mutterkuchen (Plazenta).
Diesen Schock muss das Paar erst einmal verdauen.
Nadine ist knapp an einer Blutvergiftung vorbeigeschrammt und hat ihr langersehntes Kind verloren. Der Schmerz sitzt tief. «Wir haben bereits Gefühle und eine Verbindung aufgebaut.»
Nadine fühlt sich innerlich leer. «Das war wie eine Trennung, eine Trennung von etwas, das man noch nicht kannte, aber trotzdem schon ins Herz geschlossen hatte.»
Dieser Schicksalsschlag schweisst das Paar noch enger zusammen. Noch einmal wollen sie eine künstliche Befruchtung in Anspruch nehmen. Eine weitere eingefrorene Eizelle kommt zum Einsatz. Nadine wird erneut schwanger.
Die Hoffnung ist trotz des Schmerzes gross.
Ständiger Begleiter während der Schwangerschaft ist diesmal die Angst. «Im Hinterkopf war immer der Gedanke da, dass das Herz meines Kindes plötzlich wieder aufhört zu schlagen.»
Als Nadine in der 13. Schwangerschaftswoche auf dem Patientenbett liegt und die Gynäkologin mit der Ultraschallsonde über ihren Bauch fährt, wird die Furcht zur Realität.
Die Untersuchung deutet auf Trisomie 18 hin, eine schwere Entwicklungsstörung, die durch eine Chromosomenstörung verursacht wird.
Für das Paar bricht eine Welt zusammen. Erneut.
Doch noch ist nichts definitiv.
Weitere Untersuchungen stehen an. Weitere Schwangerschaftswochen vergehen. Jede Woche muss Nadine zur Kontrolle. Das Paar hofft, das Paar zweifelt. Die Situation traumatisiert.
Abtreibung. Immer wieder fällt das Wort Abtreibung. «Als noch gar nichts sicher war, ist uns bereits zu einer Abtreibung geraten worden. Das hat uns sehr gestört», erzählt Nadine.
«In der zwanzigsten Woche ...»
Nadine laufen Tränen übers Gesicht.
«Sorry», sagt sie wimmernd. Sie wischt sich die Tränen mit einem Handtuch weg und erzählt weiter.
«In der zwanzigsten Woche erhielten wir den definitiven Bescheid, dass unser Kind nicht überlebensfähig ist und mit grosser Wahrscheinlichkeit tot zur Welt kommen wird.»
Nadine muss ihr Kind trotzdem gewöhnlich gebären. Bei fortgeschrittener Schwangerschaft ist dies in der Schweiz die Regel. «Zu Beginn war das unvorstellbar», so Nadine, «wir waren überfordert und der Gedanke an eine normale Geburt, womöglich eine Totgeburt – unvorstellbar». «Erst mit der Trauerbegleitung verstanden wir, wie wichtig dieser Prozess ist.»
Noch bewegt sich der Fötus in Nadines Bauch. Dennoch ist etwas in ihr bereits gestorben. Sie fühlt sich innerlich leer.
Diese Leere, diese Ohnmacht erleben in der Schweiz im Jahr mehrere hundert Paare. In den letzten fünf Jahren sind in der Schweiz dem Bundesamt für Statistik (BFS) zufolge im Durchschnitt jedes Jahr 355 Totgeburten verzeichnet worden. Von einer Totgeburt spricht man, wenn ein totgeborenes Kind mindestens 500 Gramm wiegt oder nach der Vollendung der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt. Diese Kinder haben ein Anrecht auf Bestattung und sind meldepflichtig.
Das Paar steht auf der Warteliste für einen Geburtstermin. Priorität hat Nadine nicht. «Das war uns bewusst und trotzdem war es unglaublich schwierig für uns, wir hatten Angst, Trauer, aber auch Hoffnung.» Am Abend vor dem Termin bemerkt Nadine, wie ihr Fötus aufhört, sich zu bewegen. Lebendig wird sie ihr Kind nie kennenlernen.
Am 12. März 2021 kommt Ameljia tot zur Welt. «Im Nachhinein war es die richtige Entscheidung, auf normalem Weg zu gebären, auch wenn es eine unfassbar traurige und schmerzhafte Erfahrung war, Geburt und Abschied so nahe beieinander zu erfahren», sagt Nadine. «Wir durften sie in den Armen halten, uns von ihr verabschieden, wir waren überwältigt und voller Liebe zu ihr. Als Erinnerung hatte eine Fotografin Bilder aufgenommen.»
Der Name ist abgeleitet von der US-amerikanischen Flugpionierin Amelia Earhart. «Wir dachten, ein Name einer starken Frau würde gut passen. Beides sind Kämpferinnen», erzählt Nadine mit wässrigen Augen.
Von einer stillen Geburt spricht man, wenn ein Kind tot respektive geräuschlos zur Welt kommt. Alles andere als still ist es auf der Geburtstation. «Ich befand mich auf der gewöhnlichen Geburtstation mit anderen schwangeren Frauen und hörte ständig die Geräusche von anderen ‹Bebes›.»
Eine besonders schmerzvolle Erfahrung für eine Mutter, die ihr Kind soeben verabschieden musste.
Es wird nicht bei dieser einen unglücklichen Situation bleiben.
«Einige Tage nach der Geburt holte ich die Urne ab und eine Frau mit einem Neugeborenen lief mir entgegen. Das fühlte sich an, als würde mir jemand einen Dolch ins Herz stechen.»
Nach der Totgeburt steht Nadine an einem toten Punkt.
«Ich bin ein sehr starker Mensch. Das war ich schon immer. Doch da dachte ich, das schaffe ich jetzt nicht mehr.»
Nadine und ihr Mann versuchen, sich abzulenken. Rechtlich hat Nadine keinen Anspruch auf einen 4-monatigen Mutterschaftsurlaub. Ameljia ist in der 22. Woche zur Welt gekommen. Trotzdem nimmt sie anschliessend eine Auszeit, absolviert eine Bootsprüfung, renoviert ihr Boot. «Das war für uns ein Heilungsprozess, wir waren so leer, wir mussten etwas tun.» Zusätzlich lässt sie sich psychologisch betreuen.
«Ich litt zu Beginn an einer posttraumatischen Störung. Ich wusste nichts mehr. Hatte alles vergessen. Mein Kopf war leer», so Nadine.
Doch nicht nur für sie, sondern auch für ihren Mann ist das Leben aus den Fugen geraten. «Die Männer vergisst man in diesem Prozess oft», betont die mittlerweile 40-Jährige. «Sie leiden auch.»
Dasselbe nochmals durchlaufen wolle das Paar nicht. «Wir sind gesund, haben einander. Alles kann man im Leben nicht haben.»
Heute geht es den beiden besser. «Wir haben eine tiefe Beziehung und Freundschaft zueinander. Diese Erfahrung hat uns zusammengeschweisst.» Doch noch immer befinden sie sich im Prozess der Abfindung.
«Der Schmerz wird immer bleiben, als Gedenken trage ich einen Ring mit einem Stein aus der Asche von Ameljia, dadurch fühle ich mich ihr nahe», so Nadine. Besonders wenn sich Ameljias Geburtstag nähere, habe sie Mühe. Trost spende ihr dann die Tatsache, dass sie schwanger sein durfte und sie mit Ameljia ein Kind haben, auch wenn sie nicht mehr da ist. «Für eine kurze Zeit war sie bei uns, aber für immer in unserem Herzen.»
*Name von der Redaktion geändert.
Ich war bei meinen zwei Fehlgeburten stets zu frueh dran fuer eine natuerliche Geburt und musste mich auskratzen lassen...
Ich wuensche sowas niemandem. So etwas vergisst man nie. Eines meiner Sternenkinder waere nun 10 Jahre alt.